Eine nachmittägliche Verabredung
Seit einer Stunde sehe ich unentwegt auf die Uhr. Ich wusste, es macht keinen Sinn davor nochmal nachhause zu fahren. Aber die Tasche war schwer, die Füße nass, die Nase kalt und der Rücken sehnte sich nach ein paar Minuten Bett.
Vielleicht schaue ich deshalb ständig auf die Uhr, um die Zeiger am Fortschreiten zu hindern, doch jede der verstrichenen fünf- Minuten- Einheiten gibt mir ein unbehagliches Stechen. Die Wohnung wärmt meine eisigen Finger, meine Decke ist so weich, dass ich beim Aufstehen ein Gefühl abgrundtiefer Abscheu vor der Straße draußen empfinde, vor der Kälte, die wieder ihren Weg in meine Jackentaschen finden wird, egal, wie tief die Hände darin vergraben sind.
Warum hatte ich nicht nein gesagt?
Ich sperre die Türe mit einer Art wehmütigem Fantasieschluchzer ab, mit Sehnsucht danach, den Nachmittag sinnvoller zu verbringen als mit… ja.. wieso hatte ich eigentlich nicht einfach nein gesagt?
Ich stapfe die Straße hinauf. Wird es etwa schon dunkel? Die Straßenbahn fährt gerade in die Station, warm und gemütlich sieht die nussbraune Holzverkleidung darin aus, prädestiniert dafür, sich hineinzusetzen, den bloßen Weg genießen. Mir fällt ein, wie warm das Gesicht wird, wenn man neben der Heizung sitzt, wie eifrig man die Knie an diesen warmen Metallkasten drängt um jede Unze Wärme aufzusaugen in den ausgekühlten Körper. Ich sehe schon wieder auf die Uhr, denn ich will nicht zu früh kommen. Ich versuche mich selbst zu überzeugen: Es ist zu spät, geh zu Fuß, sie fährt schon ab. Und da fährt sie. Und ich schleppe mich zu Fuß die Straße entlang. Der graue Schneematsch schluckt und schmatzt unter meinen Fußsohlen. Ich halte die Augen zu Schlitzen verengt und stemme mich gegen den Wind. Als ich den Ärmel zurückschiebe, um einen Blick auf die Uhr zu erhaschen, schneidet die kalte Luft in das just freigewordene Stück Haut und ich atme scharf ein. Worüber werden wir reden. Wir können doch nicht satte zwei Stunden nur schweigen.
Ich konnte doch nicht einfach nein sagen.
Die Straße ist ein einziger Sumpf. Im Schnee bilden sich schwarze Schmutzränder, die ihn aussehen lassen wie riesige, schmutzige, unförmige Fingernägel. Vielleicht sollte ich sie anrufen. Eiskalt absagen.
In der U-Bahn ist es warm. Warum und dunstig ist es, und der Boden schwimmt. Ich bin nur fünf Minuten zu spät. Kaum einer Entschuldigung wert. Nur fünf Minuten? Einfach noch eine Station fahren und dann zu Fuß zurück gehen. Zehn Minuten. Die Straßenbahn ist mir vor der Nase davongefahren. Ich will aussteigen, aber die Türen schnappen vor meiner Nase zu. Fünfzehn Minuten. Das Auto sprang nicht an. Zwanzig, dreißig, fünfunddreißig. Ich wollte dich einfach nicht sehen.
Ich stehe vor der Türe. Irgendetwas hat mich hergeschleift. Wahrscheinlich der reißende, öl – und schutzgetränkte Bach, der die Fahrbahn enlangschwemmt. Ich drücke auf den Knopf neben ihrem Namensschild. Mein Atem steigt als silberne Wolke nach oben, meine Schuhe sind undicht. Sie macht nicht auf. Fünf Minuten, zehn Minuten. Ich wähle ihre Nummer, presse das Telefon gegen mein Ohr um den Straßenlärm auszusperren. „Auf dich hab ich ganz vergessen“, sagt sie in den Hörer, während ich einen Stich in meiner Brust fühle, oder Erleichterung. Ich tänzle vor Kälte am Bordstein entlang, rutsche ab, versinke knöcheltief im Morast. „Vielleicht nächste Woche um dieselbe Zeit“, fragt sie, vielleicht mit zur Entschuldigung geschürzten, vielleicht rot glasierten, süßen Lippen. Ihre zarte Stimme hallt in meinem Gehörgang wieder und ich flüstere: „Ja, unbedingt“.
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Carina Fibich
vinzent
3. Jan 2011
der eiskalte schneidende wind, das frieren — mir wird gleich ganz kalt beim lesen 😉