Rücklauf

Ihm voran ging kein Unbekannter. So viel vermeinte er zu erkennen und hielt auf die Gestalt zu. Je näher er ihr kam, desto vertrauter erschien sie ihm, obgleich sie ihm noch immer den Rücken zukehrte. Schliesslich glaubte er sich ihr so nah, dass es ihm hätte möglich sein müssen, die Hand auszustrecken und die Gestalt, sie an ihrer Schulter berührend, zu veranlassen, sich nach ihm umzuwenden und so ihr Gesicht kenntlich zu machen. Doch als er sich anschickte, sich dem bemerkbar zu machen, dem er gefolgt war (immer schon, wie ihn nun dünkte), fuhr in ihn – wie von jemand zugerufen – der Gedanke, dass er selbst es sein musste, der da ging. Wie war es möglich, sich einer solch offensichtlichen Erkenntnis so lange verschlossen zu haben? Und wie er sich fügte, war er zu jener Gestalt geworden und er sah mit ihren Augen.

Nicht länger durchschritt er, was ihn umgab, eher schien alles um ihn herum in Bewegung geraten, so dass er darin trieb wie in einem Strom. Ihm war, als stünde er vorn in einem Boot und blickte hinunter in Wirbel, in die der Bug klaffende Wunden schlüge. Und doch würde nichts, kaum wäre er ein wenig weiter abwärts gelangt, davon zeugen, dass er jemals hier durchgekommen war. Vielleicht hatte er sich das Boot auch bloss erträumt, während es in Wahrheit nichts gab als etwas Treibholz, das sich jeder Kraft, die an ihm wirkte, träge ergab.
Beidseits von ihm taten sich Ausblicke auf, doch kaum dass er gewahr wurde, was er sah, wandelten sich die Bilder. Ging der Weg eben noch grau gealterten Häuserzeilen entlang, deren Fassaden gleichmütig bargen, wer hinter ihnen Zeitspannen zubrachte, und unter deren Regenrinnen die Lebenslügen manch vergangener Generation dicht wie Spinnweben hingen, brach nun jäh und gewaltig und doch geräuschlos, wie Traumgeschehen, aus den Dächern Geäst hervor, sich sogleich zu belaubten Baumkronen verdichtend. An die Stelle der Häuserfronten traten Baumreihen, so zahlreich und hochaufragend, als wären sie die Ausläufer eines Waldes, mächtig genug, dass selbst die Zeit in ihm irreginge. Auch sie wirkten vertraut. Hier war er vielleicht früher einmal so lange geblieben, dass sich Erinnerungen in ihm festgesetzt hatten und versunken waren und nun endlich wieder in sein Bewusstsein hochstiegen. Allein der Wille, hier zu sein, wäre ihm genug gewesen. Ein Innehalten aber gab es nicht mehr, der Strom, sich frei windend, zog stärker an ihm und trug ihn an den Bäumen vorbei und weiter durch eine Ebene, vermeintlich endlos und sich dann doch zu einer Hügellandschaft wellend, grotesk grossen Tapeten gleich, die sich, einst unzulänglich geleimt oder zu lange schutzlos der Witterung ausgesetzt, von einer unermesslichen Wand zu lösen begannen.
Dann war da ein Haus, das am Fusse der Hügel und wie diese selbst in einiger Entfernung emporwuchs. In den paar Augenblicken, in denen es vor ihm stand, war es ihm so wenig fremd, dass er sich zum Glauben berechtigt fühlte, einst dort gelebt und es irgendwann verlassen zu haben. Obgleich es im gegebenen Licht und aus der Distanz zu erzittern und wie zu flimmern schien, vermeinte er es noch immer gänzlich intakt zu sehen. Die Zeit, wie viel davon auch verstrichen sein mochte, hatte jenen Mauern nichts anhaben können, und als die Tür sich öffnete und jemand heraustrat, wünschte er sich zu wissen, wer es war. Der Abstand zu jener Gestalt verhalf ihm dazu, Wunsch in Gewissheit zu wandeln. Er sprach ein paar Worte, erst zu sich allein, dann hob er die Stimme, und obgleich er selbst nichts vernahm, musste ihn jene Gestalt gehört haben, denn sie hob den Kopf und sah ihm entgegen. Verharren wollte er erneut, doch weiter riss es ihn fort. Noch wehrte er sich, dann sah er sie sachte den Kopf schütteln und er glaubte Beschwichtigung zu erkennen. Er ergab sich, aber die Gedanken trieben aufgewühlt mit ihm einher.
Deswegen wohl musste er unachtsam geworden sein und so übersehen haben, dass er auf einen Weg geraten war, der ihn vor etwas geführt hatte, was eigentümlich fremdartig und einer Art Monument nicht unähnlich war. Er sah es dicht vor sich und doch undeutlich wie in Dämmerlicht. Wie viel Uhr mochte es sein? Dass er erst jetzt daran dachte, liess nicht zweifeln, wie wenig ihn die Frage kümmerte. Er war sich bereits über die Orte ungewiss, die er durchmass, auch wenn ihn all das, was er bislang um sich herum wahrgenommen hatte, irgendwie erinnerlich dünkte. Wie viel fremder musste ihm dann die Zeit sein, deren Verständnis sich an zwei Zeigern über das Rund einer Handvoll Zahlen hinweghangelte. Orte liessen sich greifen, solange man sie sich erschritt; erst wenn man sie hinter sich gelassen hatte, bemächtigte sich ihrer die Zeit und liess sie vermodern, bis sie nichts weiter als ein paar Bruchstücke Erinnerung waren. Lange war er gegangen und viel hatte er hinter sich zurückgelassen. Erinnerungen mussten sich hinter ihm angehäuft haben, und erstmals erschien es ihm klüger, er hätte früher bereits verweilt, bevor sie sich so hoch türmten, dass sie in seinem Rücken ins Wanken zu geraten und ihn unter sich zu begraben drohten.
Nun endlich verharrte er, jenes Denkmal vor sich, das, zuvor noch von vermeintlich imposanter Grösse, tatsächlich so niedrig war, dass es sich, seltsam lebendig geworden, vor ihn hinkauerte wie vor etwas Vertrautes, und er den Kopf neigen musste, um seiner überhaupt ansichtig zu bleiben. So waren die Hände in sein Blickfeld geraten, die empor gedrehten, leeren Handflächen verwittert, und in all den Furchen hatte sich, was da an Lebenslinien einst gewesen sein mochte, längst verloren.
Er trat einen Schritt zurück, da gewahrte er hinter sich eine Wandlung, als hätte sich zugleich was ungeheuer Grosses hinter ihm bewegt, vielleicht hatte er aber auch bloss ein Geräusch vernommen, von etwas von solcher Grösse ausgehend, dass es in ihm wie ein Beben nachhallte. Doch er durfte nicht länger darauf achten, denn nun war ihm, als hätte sich jemand an seine Seite gesellt, so unmittelbar, als hätte sich ihm jener andere nicht von aussen genähert, sondern wäre aus ihm herausgetreten (vielleicht in jenem Moment, in dem er einen Schritt zurück getan hatte), und nun bei ihm stand und mit ihm zusammen wie in stillschweigendem Einverständnis auf das Mahnmal sah. So verharrten sie, doch wenn er nicht bald den Kopf höbe und zum andern hin drehte, würde jener sein Gesicht ihm zuwenden und seinen Blick auf ihn richten. Dieser Gedanke war ihm so unangenehm, dass er sich abwandte, weg vom Fremden, und dann den Blick hob. Wolken glitten über sie hin, und unsinnigerweise erschrak er, als er sah, dass sie sich, tief hängend und wie in grosser Eile, ohne jeden Laut bewegten. Weit oben musste ein Wind gehen, ein Sturm vielmehr, der nicht bloss die Wolken vor sich hintrieb, sondern auch ihn und den andern neben sich und alles, was hinter ihm hochragte, durchfuhr und es – dessen war er sich nun sicher – unweigerlich zum Einsturz bringen musste. Bis auf diesen einen Augenblick war sein ganzes Leben zu Erinnerungen geworden, in- und übereinander emporwachsend waren sie ihm auf seiner Fährte bis hierher gefolgt, und wucherten nun bis dicht unter die dahinjagenden Wolken. Er ahnte sie in seinem Rücken und er fürchtete ihr Gewicht. Vielleicht wusste der andere an seiner Seite Rat, wohin der Weg nun ging, nur rasch genug, um endgültig hinter sich zu lassen, was an ihn herandrängte. Er hielt den Blick nicht länger nach oben gerichtet. Behutsam wandte er ihn und ihn senkend sah er zur andern Seite hin.

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Christian Aeberhard

  • das tönt sehr interessant und sehhhhhr schwierig…..