Transit
„Willkommen an Board!“, begrüßt mich die brünette Stewardess mit standardisiertem Lächeln und einem schwachen Kopfnicken bei dem sich eine Haarsträhne hinter ihrem Ohr löst und elegant ins Gesicht gleitet. Sie sieht müde aus. Mitleidslos wende ich meinen Blick von ihr ab und versuche auf dem Papierschnipsel, der den Rest meines einst trennstreifengroßen Boardingpasses darstellt, meine Sitzplatznummer zu erkennen. Widerstandslos wild zittert dieser jedoch mit meiner Hand im unregelmäßigen Rhythmus. Unter Anstrengung erkenne ich schließlich die schwach gedruckte 27D. Ein Fensterplatz. Ich hole tief und hörbar Luft, atme laut und langgezogen aus. Ungeduldig, mit bösem Blick, kämpfe ich mich an all den eifrig Handgepäck-Verstauenden Passagieren vorbei. Erst Ihr Grunzen und Schwitzen, dann der zufriedene, selbstgefällige Blick, wenn sie sich in ihren Sitz fallen lassen und die Hände vor den hungrigen Bäuchen falten, bestätigen mich in meiner Entscheidung. 27D. Endlich angekommen!
Noch ist kein Sitznachbar in Sicht. Mir entgleitet ein zufriedenes Lächeln, während ich meine Handtasche unter den Sitz vor mir schleudere und mich auf meinen Platz fallen lasse. Genau ein halbes Jahr habe ich es in Deutschland ausgehalten. Genau ein halbes Jahr liegt zwischen meiner Rückkehr und nun der erneuten, so genannten „Flucht“. Haben sie Recht, laufe ich davon? Anderenfalls brauchen sie vielleicht nur eine Erklärung, nicht so abendteuer- und entdeckungslustig zu sein, wie ich es bin? Jemand des Flüchtens und somit der Feigheit zu bezichtigen ist gewiss einfacher, als den eigenen Unmut vor Neuem und Unbekannten einzugestehen. Liegt es nicht in der Natur des Menschen, nach Erklärungen und Rechtfertigungen zu suchen? Wenn ich aber doch flüchte, dann wovor? Vor dem zwanghaften Perfektionismus und dem Leistungsdruck, den er mit sich bringt? Vor dem so schnell ergrauendem Alltag? Vor Problemen, die ich mir selbst schaffe? Vor einer oberflächlichen Gesellschaft, die streng nach einem engmaschigen Muster bewertet? Die Fragen scheinen wie tosend berstende Wellen in meinen Kopf aufzuschäumen. Ich seufze, schließe die Augen und lehne meinen schmerzenden Kopf an die Kunststoffscheibe. Die aufgehende Sonne spiegelt sich auf dem Asphalt der Startbahn und blendet mich. Fast idyllisch. Die brünette Stewardess gibt letzte Sicherheitsinstruktionen und setzt sich dann auf den Klappsitz in der Mitte des Flugzeuges. Flüchtet sie auch? Was ist mit all den Menschen um mich herum? Suchen Sie alle das Gras, das anderswo, irgendwo grüner ist? Ich sehe mich um: Familien mit Kindern, ältere Ehepaare, junge, allein- und gemeinsam reisende Menschen, indische und deutsche Geschäftsmänner. Sie lesen Zeitung, reden miteinander oder halten einfach Ihre Augen geschlossen; ruhen, denken nach. Was denken sie? Wonach suchen sie? Suchen sie überhaupt noch oder haben sie schon gefunden? Können wir überhaupt aufhören zu suchen und uns wirklich vollster Zufriedenheit erfreuen? Was erwarten die Reisenden um mich herum von ihrer Destination? Haben sie auch Hoffnungen und Ängste? Ich spüre, wie mein Puls mit der stetigen Beschleunigung des Flugzeuges und schließlich mit jedem Meter, den wir uns vom Boden entfernen, zunimmt. Das Gefühl des freischwebenden Magens setzt ein. Ich genieße es. Ich genieße es, gebannt aus dem Fenster zu schauen und zu beobachten, wie alles unter mir verschwindend klein wird. Ich genieße es zu realisieren, dass ich zumindest für eine Weile alles hinter mir lasse und aus Unbekanntem Bekanntes machen werde, selbst aber eine Unbekannte bin. Ich genieße die Vorfreude auf das noch nicht Erlebte.
Genau in diesem Moment über den Wolken, im Transit, fühle ich mich vollkommen. Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe und auch bald wieder suchen werde.
_________
India2009
ich, du, er, sie, es
2. Dez 2010
Toller Text, regt trotz seiner Kürze zum Nachdenken an und macht Lust auf die Fremde. 🙂
Erinnert mich auch bisschen an Dirk Bernemann, wenns auch am Ende positiver ausklingt.
Bin gespannt wieder was von dir zu lesen!
Sabine Keller
2. Dez 2010
eine eindrucksvolle Einsicht in die Gefühlswelt einer Rast- und Ruhelosen, die sich hier selbst den Spiegel vorhält, Werte in Frage- und eigene Ansichten auf den Prüfstand stellt
brilliante Beschreibungen als Resultat intensiver Beobachtungen unterschiedlichster Mitmenschen
kritische Auseinandersetzungen mit dem Wohlstandshabitus
absolut gelungen und fesselnd geschrieben
NichtausHerrderRinge:P
3. Dez 2010
Sehr schöne Hommage an das Fliegen, „Flüchten“ und die Freude der Freiheit!
Bravissimo.
Frank Wyrowski
5. Dez 2010
Das Leben ist voller Fragen. Eine davon ist die nach dem Glück im Leben. In dieser Kurzgeschichte wird die Situation des Fliegens geschickt und eindringlich genutzt, um einige dieser Fragen zu stellen. Natürlich gibt es keine Antworten, aber die klare Bekenntnis zur Hoffnung und zur Entscheidung. Die Kurzgeschichte hat mir richtig gut gefallen.
Günter Wirtz
5. Dez 2010
Sehr schön geschrieben.
Liebe Grüße
Günter
Averna Vengamaier
5. Dez 2010
Daumen hoch!
Christine Keller
6. Dez 2010
Eintoller Text, der alle Kriterien, die an eine Kurzgeschichte gestellt werden,erfüllt.
Die treffend gewählten Verben und Adjektive geben einen tiefen Einblick in die Wünsche und das Verlangen der Verfasserin,wobei sie diese doch immer wieder in Frage stellt und so den Leser zwingt, sich darüber Gedanken zu machen.
Inga Hetten
8. Dez 2010
Kann den Vorrednern (Verwandtschaft?) nicht zustimmen. Jemand, offenbar ein Mädchen, betritt ein Flugzeug. Ist froh, den Sitzplatz erreicht zu haben, freut sich auf das Ziel. Schaut sich nach den Mitreisenden um, erstellt einen Fragenkatalog. Ja und? Wieso bestätigen Grunzen, Schwitzen und zufriedene Blicke die Entscheidung der Erzählerin? Welche Entscheidung? Krause Geschichte, mir „entgleitet“ ein fragender Blick. – Vielleicht ist der Text autobiographisch und macht mehr Sinn für jemanden, der die Autorin kennt.
india2009
9. Dez 2010
Liebe Inga, danke für Dein Kommentar.
Die Protagonistin hier erlebt einen Zwiespalt. Den Zwiespalt, in dem man vor jeder großen Reise befindet. Sie fragt sich, was sie dazu bewegt, konstant UNTERWEGS seien zu wollen, warum sie ständig den Drang verspürt, Neues zu entdecken und zu erleben. Im Text wird nach und nach klar, sie sucht etwas.
Ein Anflug der Nervosität beim Besteigen des Fliegers kommt auf.(hier durch das zittern der Hand, in dem sie den Boardingpass hält, dargestellt) Das Erreichen des Sitzplatzes stellt das eigentliche Handeln, die Umsetzung des Gedankens an „die Flucht“, dar. Mit gemischten Gefühlen sucht sie noch einmal Bestätigung, dass sie das Richtige tut; auf ihr Gefühl hört und sich erneut auf eine Reise ins Unbekannte begibt. Diese Bestätigung bieten ihr die standartisierten Deutschen, die SELBSTGEFÄLLIG (das hast Du leider falsch mit“zufrieden“ zitiert)lächeln, nachdem sie grunzend, schwitzend und rücksichtslos ihr Gepäck verstaut haben.
Der „Fragenkatalog“ bildet den Kern der Geschichte und sollen den Leser dazu anregen, sich selbst einige Fragen über sich, seine Gewohnheiten und Einstellungen und sein Verhalten gegenüber Mitmenschen zu stellen.
Die Interpretation von Herrn Wyrowski oben war schon sehr gut, es geht im weitesten Sinne auch um die Frage nach dem Glück (was ja für jeden anders aussieht) -> Hier Versteckt: eine Hommage an die Toleranz, die leider vielen von uns fehlt!!!
Ben
9. Dez 2010
Kann Inga Hetten in ihrer Kritik nur zustimmen, finde den Text recht banal. Was India2009 in ihrer Erklärung schreibt und in ihrem Text sieht, kommt für mich überhaupt nicht rüber. Er ist für mich persönlich auch zu plump formuliert („Leistungsgesellschaft“, „grauer Alltag“, „zwanghafter Perfektionismus“, „oberflächliche Gesellschaft“ etc.), um wirklich Emotionen zu wecken. Gesellschaftskritik gerne, aber nicht mit der Keule. Die Phase, sich als das einzige reflektierende menschliche Wesen wahrzunehmen, hat wohl jeder Mal mit 16 oder so.
Im Prinzip ist aber die Protagonistin auch hier nur Teil dieser „grauen“ Gesellschaft, die sie kritisiert. Kein Mitleid für die übermüdete Stewardess, eine abwertende Haltung gegenüber den anderen Mitreisenden, deren Situation sie ja nicht einmal im Ansatz kennt.
Auch finde ich den Text stilistisch eher mäßig, die Sprache wirkt oft holprig, die Sätze konstruiert.
Übrigens steht im Text: „der zufriedene, selbstgefällige Blick“. Inga Hetten hat also sehr wohl richtig zitiert.
Janu
9. Dez 2010
Ein Text, der mir trotz der Erklärung der Autorin leider nicht viel sagt – da kann ich Inga Hetten nur zustimmen! Abgesehen von der dürftigen Erzählart stören mich etliche Komma- und Rechtschreibfehler. Sprachlich wie inhaltlich erinnert der Text eher an den Tagebucheintrag einer 17jährigen, des Weiteren stören mich diverse Pauschalurteile, die die Protagonistin im Text fällt, z.B. in Sätzen wie „Vor einer oberflächlichen Gesellschaft, die streng nach einem engmaschigen Muster bewertet“.
Inga Hetten
9. Dez 2010
Liebe india2009,
vielen Dank für die flammende Verteidigung Deiner Kurzgeschichte!
Ich muss gestehen, solcher Feinsinn liegt jenseits meiner Fähigkeiten zur Interpretation von Texten. Ohne Deine Hinweise hätte ich bis an mein Lebensende immer nur ein Mädchen gesehen, das unkontrolliert zitternd ein Flugzeug betritt, wo ihm die Luft wegbleibt. Das ein Mäulchen zieht, wie unsichere Teenager allein unter Fremden das so an sich haben, sich dann an einem Trupp übergewichtiger deutscher Pauschaltouristen vorbeikämpfen muss (was wahrlich kein Spaß ist), die Handtasche wegfeuert, die doch auch nichts dafür kann, und seine Mitreisenden mit finsteren Blicken bedenkt, was selbigen herzlich wurscht ist. Immerhin geht es dem armen Mädchen dann besser, weil es sitzen und Teenagersachen denken kann. Oje, so habe ich das bisher gesehen.
Ich habe also eine Hommage an die Toleranz gelesen und sie beim besten Willen nicht erkennen können. Das tut mir leid.