Heimreise
Andreas war nun schon zwei Wochen in Jakarta. Die Eindrücke in diesem fremdem, exotischem Land waren überwältigend. Die Menschen waren arm, aber freundlich. Gestern ging Andy durch ein paar verwinkelte Gassen in Mitten der Stadt. Überall kamen Kinder angerannt und wuselten um ihn herum. Sie sahen seine Fotokamera, welche um seinen Hals hing.
„ Hello Mister, take a photo, Mister!“, bettelten sie. Gerne posierten sie mit einem Puttyman mit breiten Lachen im Gesicht… Andreas wollte der Mutter, der Kinder ein paar Rupien geben, doch erschocken lief sie mit den Kindern davon, verschwunden im Gewirr, zwischen Unrat, freilaufenden Hühnern und Hunden. Ein alter Mann mit einem ausgewaschenen T-Shirt und zerfetzten Jeans beobachtete Andreas. „ Wissen sie, ein Mann ist nicht reich, wenn er viel Geld hat, sondern durch die Kinder, die er hat.“, sagte er. „ Gute Frauen nehmen kein Geld von Männern. Es sind nur die anderen…“, sprach er und ging weiter.
Kaum den Weg aus dem Armenviertel gefunden, duftete es herrlich nach scharfen Gewürzen, heissem Essen, was man sich nach belieben an einem der diversen Essstände zusammenstellen konnte. Lebende wie tote Tieren gab es frisch zu verkaufen und dem hektische Treiben, war lustig zu zusehen. Auf der Strasse überall Autos, Mopeds, Rikschas, Busse und lautes Gehupe. Über die Strasse zu gehen jenseits der Verkehrsregeln, war ein Abenteuer für sich, aber mit ein bisschen Mut ging alles. Am Besten weder nach links noch rechts zu schauen, so vermied man Unfälle, alles andere irritierte die Einheimischen. Er stand am Strassenrand und winkte einem Taxi. Nach fünfundvierzig Minuten und zwölf Schlaglöchern später kam er in seinem Losmen an. Die Familie Panjaburi hat schon verschiedene Schüsseln voll mit Reis, Fleisch und Gemüse auf den Boden gestellt. Andreas musste sich zuerst daran gewöhnen, dass man auf dem Boden mit seinen Fingern ist.
Der Wecker klingelte pünktlich, doch Andreas war so aufgeregt, dass er kein Auge zumachen konnte. Heute konnte er sie endlich aus dem Heim holen. Die Formalitäten waren erledigt. Seit er seine Unterschrift auf das letzte Blatt des Adoptionsantrages gesetzt hatte, wurde ihm mitgeteilt, dass er ein kleines Mädchen bekommen würde. Er packte ein paar Babysachen für das Mädchen, Geschenke und ein paar Medikamente, die er zusammen mit seinen Freunden gesammelt hatte, in eine Tasche.
Die Fahrt ins Kinderheim kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Eine Schwester erwartete ihn zusammen mit Andreas Dolmetscherin an der Eingangspforte. Überall schreiende und tobende Kinder. Neugeborene bis Sechzehnjährige. Wie älter diese Kinder werden, desto schwieriger waren sie zu vermitteln. Andreas taten die Kinder leid. Wenn er ihnen in die Augen blickte, fand er nur Sehnsucht darin. Endlich sah er das kleine Mädchen mit den grossen dunklen Haselnussförmigen Augen. Die Schwester sagte, dass das Mädchen Sheryl heissen würde. Über die Herkunft oder der Verbleib der leiblichen Mutter, war nichts bekannt. Doch das spielte für Andreas keine Rolle. Er hatte seine Sheryl in seinen Armen. Jedoch war das kleine Mädchen krank. Wog mit ihren zwölf Wochen, nicht viel mehr, als bei der Geburt und hatte Fieber und Durchfall.
„ Ein Glück, dass Sheryl ein zu Hause gefunden hatte. Ansonsten würde sie wohl sterben…, übersetzte Tamara, was die Schwester zu Andreas gesagt hatte. Zusammen mit der Schwester kleidete Andreas Sheryl an. Gab die Medikamente und die Spielsachen für die Kinder ab und verabschiedete sich von den Kindern. Als er mit Sheryl im Arm gehen wollte, rannte ihm die Schwester nach. „ Als Andenken für die Kleine.“, sagte sie mit gebrochenem Englisch und drückte ihm ein Bild, mit ihr und den Kindern, in die Hand.
Die ganze Nacht hindurch leise winselte Sheryl vor Bauchschmerzen. Es war, als würde sie mit Absicht nicht schreien, um Andreas zu wecken, aber er wachte an ihrem Bettchen und beobachtete sie. Er konnte ihr erst helfen, sobald sie mit der Maschine in Frankfurt landeten, was noch fast zwei Tage dauern würde.
Ein letztes Mal sah er den Sonnenaufgang hinter den Palmen zwischen den Hochhäusern.
Er verabschiedete sich von der Familie Panjaburi und dankte für die Gastfreundschaft. Das Taxi wartete vor der Tür und zusammen mit Sheryl, stieg er ins Auto und winkte. Wie weiter sie in die Innenstadt fuhren, desto nebliger wurde es. Die Luft wurde stickig und heiss. Hastiges Treiben am Flughafen. Es blieb nicht mehr viel Zeit für das Check-In und Boarding. Endlich kam Andreas am Schalter an die Reihe. Sheryl hatte die Windeln voll und fing an zu quengeln. Die Dame am Schalter wollte Andreas Pass. Er machte seine Reisetasche auf, doch da war er nicht. Er war sich sicher, dass er ihn in die Tasche gesteckt hatte. Er leerte die Reisetasche, er leerte auch die Babytasche, die Hosentaschen… doch nichts. Er hoffte, dass er in der Eile den Pass nicht in den Koffer gepackt hatte, welcher nun im Gepäckraum des Flugzeuges sicher verstaut war. Der Koffer hatte übergewicht und er hatte Angst, etwas zurücklassen zu müssen.
Andreas wurde nervös, was sich auf Sheryl übertrug und schrie den ganzen Flughafen zusammen. Schliesslich kam eine weitere Frau des Bodenpersonals der Fluggesellschaft und nahm sich Sheryl an. Schweissperlen flossen Andreas über das Gesicht. Sogar die Dame am Schalter versuchte zu helfen.
„ Mister, ich bedaure, aber ohne Pass können wir sie nicht an Board lassen. Der Flug hätte seit einer halben Stunde abfliegen sollen. Wenn wir ihren Koffer rausholen müssen, verlieren wir wieder eine Stunde, und somit müssten wir sie auf einen anderen Flug umbuchen. Die verlorene Zeit können wir so oder so nicht mehr aufholen…, erklärte sie ihm. Als Andreas sein Taschentuch aus seiner Hemdtasche ziehen wollte, um sich den Schweiss von der Stirn zu wischen, zog er dabei seinen Pass mit raus. Erleichtert und auch ein wenig beschämt, übergab er ihn. Schlussendlich sassen beide, erschöpft im Flugzeug. Der Flug startete mit zweieinhalb Stunden Verspätung. Die anderen Passagiere hatten grosses Verständnis dafür, denn Sheryl zog sie alle in ihren Bann. Die Flugbegleiterinnen waren sehr zuvorkommend und verwöhnten Sheryl, während Andreas schlief. Der Zwischenstopp dauerte in Singapur nicht so lange wie beim Hinflug und die Maschine landete nur neunzig Minuten später, als normalerweise.
Mia, die künftige Mutter von Sheryl, sowie die zukünftigen Grosseltern warteten gespannt in der Ankunftshalle. Mia war aufgeregt. Sie war traurig, dass sie wegen ihrer Flugangst nicht nach Indonesien fliegen konnte, um die gemeinsame Tochter zu holen. Dafür hatte sie alles fein hergerichtet, damit es Sheryl an nichts fehlen würde. Endlich kam Andreas mit Sheryl durch die Schiebetüre. Freudetränen, Lachen und innige Umarmungen folgten.
Noch heute, fast dreissig Jahre danach, erzählten ihr die Eltern von ihrer Heimreise. Das Bild mit den Heimkindern stand in Sheryls Wohnzimmer, damit sie ihre Herkunft nie vergessen sollte.
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Rejeka117