Dieter und Imbi – zusammen unterwegs

Orpheus und Euridike, Antonius und Kleopatra, Romeo und Julia; in der Literatur begegnet uns die tragische Liebe als eine Kraft, welche über die Gesetze des Lebens hinaus ihre Flügel spannt und mit gewaltigem und endgültigem Drang die körperliche Existenz hinter sich lässt. Sie spottet die Grenzen des Todes Lüge und erlangt damit eine Aura des Übernatürlichen. Sie wirkt gestelzt und kitschig. Sie ist das menschliche Versprechen, welches wohl am meisten gebrochen wird.
Trotzdem geben es die Menschen immer wieder ab, wohl in der Hoffnung, dass in ihrem speziellen Fall die Bindung an das Gegenüber stärker sei als Streit, Missgunst, Enttäuschung, Gewohnheit und Auseinanderleben.
Wenn das Wunder passiert, wenn eine Liebe das Leben überlebt, dann hinterlässt diese Verbindung ein Strahlen, das etwas Mystisches nach sich zieht. Sie zeugt von vermeintlich Grösserem, als es der normal Sterbliche begreifen kann. Das dürfte dann der Augenblick sein, wo gemäss griechischer Mythologie zwei neue Sterne am Nachthimmel sichtbar werden. Wie Castor und Pollux. Dieter und Imbi haben diese Liebe gelebt.

„Komm, schenk da noch etwas ein. Dieses Glas ist fast leer.“ Der schwarzbärtige Mann lallte mich unfreundlich an. Sein langes Haar war zu einem losen Zopf gebunden. Ich hatte ihm schon über die erlaubte Menge Whisky eingeschenkt und sollte mich doch an die geeichten vier Zentiliter halten. Es war fast Mitternacht, der unbequeme Hüne trank seit Stunden.
„Hör doch, ich habe bereits zuviel eingeschenkt. Ich muss mich an…“ „Du musst gar nichts. Wenn ich dir sage, schenk nach, dann schenk nach!“
„Nein. Ich darf nicht und ich will nicht!“ „Schenk ein, sag ich dir.“
Ich liebte meinen Nebenjob als Barmann, trotzdem war ich nicht immer die geeignete Person, um mit den Marotten der Gäste umzugehen. Das war so ein Fall. Sein Befehlston und sein Auftreten brachten mein Bauernblut in Wallung. Bestimmt spielte auch das männliche Platzhirschgebaren eine unterbewusste Rolle.
„Spinnst du eigentlich?“ Ich provozierte übergangslos den Streit.
„Du benimmst dich wie ein Arschloch und ich soll dich noch bedienen?“
„Was heisst hier Arschloch…ich…“
Ohne das Eingreifen der Wirtin wäre der Streit eskaliert. Sie nahm mich ins Gebet und schickte ihn nach Hause.
Zwei Tage später sass er wieder im Restaurant. Ich entschuldigte mich für mein Benehmen. Er brummte: „Ach was, Schnee von Gestern. War ja auch meine Schuld. Ich bin Dieter.“
So lernte ich Dieter kennen. Er war gebürtiger Deutscher, Weltenbummler und seit langen Jahren mit seiner Lebensgefährtin aus Basel unterwegs. Ihr Übername war Imbi, sie besassen ein Anwesen in der französischen
Haute – Saonne und schienen füreinander geschaffen. Sie führten ein Leben am Rand; und doch mittendrin. Sie reisten sehr viel und ihre kinderlose Beziehung war für beide das Richtige. Unabhängig, alternativ; aber mit einer sozialen Konstante, die dem Leben etwas abforderte und den Mitmenschen viel zurückgab.
Ein halbes Jahr später half mir Dieter beim Einrichten des Theaters am Nadelberg, das ich mit dem Einakter „Die dunklen Tiefen der Liebe“ bespielte. Auf den Fahrten erzählte er mir von Alaska, von seinen Jahren als Hochseefischer. Von dem Meer, der Kälte und der harten Arbeit. Ich wurde sehr still. Sein Fundus an Erlebtem war enorm und ich schämte mich, wenn ich an den Streit mit ihm zurückdachte.
Zur gleichen Zeit fing Imbi mit dem Kochen im „alte Schluuch“ an. So hiess das Restaurant, in dem ich Teilzeit arbeitete. Die gemeinsamen Frühschichten sind mir unvergesslich geblieben.
In den drei- bis vier fast gästefreien Morgenstunden bereitete sie das Tagesmenü und die Küche vor, ich richtete die Bar und die Gaststube. Wir philosophierten über Gott und die Welt und ich entdeckte einen wunderbaren Menschen. Auch sie wusste viel zu erzählen. Von ihren Reisen, von Dieter, von Hoffnungen, geplatzten Träumen und stillen Freuden. Wir arbeiteten fast drei Jahre zusammen, als Imbi hin und wieder zu klagen anfing. Sie sagte, sie würden eine Veränderung brauchen. Sie und Dieter. Der Alltagstrott hatte die beiden erreicht und der Alkohol war ein schlechter Ersatz für Reisen und Abenteuer. Imbi schien plötzlich von Sorgen beladen. Zu meinem 31. Geburtstag schenkte sie mir das Buch „Ahasver“ von Stefan Heym.
Einige Tage später sagte mir Imbi, dass Dieter und sie verreisen müssten, wenn ihre Beziehung noch eine Chance haben sollte.
Noch einmal verreisen. Noch einmal die weite Welt spüren. Noch einmal ganz sich selber sein, das wünsche sie sich.
Ich war über zehn Jahre jünger als das Paar und konnte nicht beurteilen, ob es lediglich ein momentanes Missgefühl war, oder ob Imbi mit ihrer Beurteilung der persönlichen Situation tatsächlich richtig lag. Zudem flog die Zeit an mir vorbei, ich steckte über den Kopf in den Anforderungen von Theaterproduktionen, zweijährigem Kind, kriselnder Beziehung und Nebenjob. Der Blick in die eigene Tasse trübte offensichtlich die Wahrnehmung für die Umgebung. So schien mir. Aus meiner eigenen Erfahrung konnte ich aber bestätigen, wie schwierig es war, Beziehung und Alltag unter einen Hut zu bringen. Mehr fiel mir nicht ein. Einzig den gesteigerten Alkoholkonsum der beiden konnte auch ich feststellen. Und gehässige Worte. Doch wo gab es die nicht?

Dann kündigte Imbi. Sie hatte ihren Kopf durchgesetzt und organisierte in kürzester Zeit eine neue Weltreise für sich und ihren Lebenspartner. In den Tagen vor der Abfahrt lachte sie viel. Sie war gelöst.
Die Beiden reisten ab – und hin und wieder kamen Nachrichten oder Karten aus Übersee. Wochenlang. Monatelang. Später wurden die Meldungen dünner, rissen aber nie vollständig ab. Dieter und Imbi waren unterwegs.
Dann ging plötzlich eine Mitteilung durch die Medien, dass in Afrika ein Busunglück das Leben von Touristen gefordert hätte. Zwei Schweizer wären auch dabei gewesen. Zwei Schweizer ; ein Paar.
Niemand wollte annehmen, dass wir die zwei kennen müssten. Die schweizerische Botschaft bestätigte dann die unangenehme Vermutung, die sich doch breitgemacht hatte. Dieter und Imbi waren tot.
Mitten im Leben – und doch vorbei. Gestorben im Unterwegs.
Sie sind tot. Sie sind zusammen.
Der Nachthimmel hat zwei leuchtende Sterne mehr.

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Herbert Blaser