Das Wiedersehen

„Die Fahrkarte bitte!“ Die Stimme hinter Elke klang ungeduldig.
„Ja Moment, ich habe sie gleich.“ Nervös kramte sie in ihrer Tasche, um dann triumphierend das gewünschte Papier hervorzuziehen. „Sag ich doch, da ist sie.“
Der Schaffner schaute prüfend über den Brillenrand und entwertete die Karte. „Gute Fahrt“, sagte er und verließ das Abteil.
Elke verstaute ihr Gepäck und hing den Mantel an den Hacken neben dem Fenster. „Nicht mal in Ruhe einsteigen kann man“, dachte sie, „sehe ich aus, als würde ich schwarzfahren?“
Sie setzte sich ans Fenster und schaute dem bunten Treiben auf dem Bahnhof zu. Menschen aller Nationen und Generation liefen hin und her, weinten und lachten, lagen sich in den Armen und sprachen durcheinander. Manche winkten zum Abschied. Andere gingen, ohne sich umzudrehen. Ein lautes Pfeifen, ein kleiner Ruck und der ICE setzte sich in Bewegung. Erst jetzt beachtete sie den Mann auf dem ihr gegenüberliegenden Platz, der umständlich seine Zeitung zusammenlegte.

Elke erkannte ihn sofort. „Peter? Peter!“ Ungläubig schaute sie ihn an. „Meine Güte, wie lang ist das her“, fügte sie leise hinzu.
Der Angesprochene blickte sie mit aufgerissenen Augen an. „Elke! Wir haben uns jahrelang nicht gesehen. Was machst du? Wo willst du hin? Entschuldige, ich überfalle dich gerade.“ Er lachte und Elke erkannte in seinen graublauen Augen dasselbe Funkeln, das sie einst so sehr geliebt hatte. Peter hatte ihre Hände ergriffen. Eine kleine Weile schauten sie sich stumm an.

„Wie schön, dich wiederzusehen.“ Elke war es, die das Schweigen brach.
„Ich freue mich unglaublich. Sag, wo fährst du hin?“, fragte Peter nun deutlich ruhiger.
„Ich werde Rena in Nürnberg besuchen. Du erinnerst dich an meine Schwester?“
„Natürlich, ich sehe sie noch vor mir. Die Kleine mit der großen Klappe.“ Er schmunzelte.
„Und wohin führt dich die Reise?“, wollte Rena wissen.
„In München tagt der Kongress für integrative Medizin. Ich werde dort einen Vortrag halten“, antwortete Peter.

Elke betrachtete ihr Gegenüber und die Schmetterlinge in ihrem Bauch erwachten aus ihrem Dornröschenschlaf. Wie gut er immer noch aussah. Das Alter hatte ihn noch interessanter werden lassen. Seine dunklen Haare waren silbergrau geworden. Die blau geränderte Brille gab seinem Aussehen etwas Jungenhaftes. Sie überlegte einen kurzen Augenblick. Es musste etwa dreißig Jahre her sein. Damals war er fünfundzwanzig und sie selbst dreiundzwanzig. Sie hatten gemeinsam Medizin an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg studiert und eine stürmische Zeit miteinander erlebt.

„Komm, wir gehen in das Bordrestaurant, trinken einen Kaffee und plaudern über alte Zeiten“, holte Peter sie aus ihrer Versonnenheit. Elke nickte zustimmend und gemeinsam kämpften sie sich durch die engen Gänge des Zuges. Im Speisewagen angelangt ergatterten sie den letzten freien Zweiertisch.
Peter bestellte Sekt statt des angekündigten Kaffees. „Zur Feier des Tages“, wie er meinte. Sie prosteten sich zu und erzählten. Elke erfuhr, dass Peter in Essen eine große Praxis für Allgemein- und Naturmedizin betrieb. Seine Frau war vor drei Jahren nach langer Krankheit gestorben. Seitdem hatte die Arbeit den ersten Platz in seinem Leben eingenommen. Sie sprach von ihrer Tätigkeit im Herzzentrum Duisburg und wie viel Erfüllung sie immer noch in ihrem Beruf fand.
Der Kellner kam an den Tisch. „Entschuldigen Sie die Störung. Darf ich bitte kassieren?“, fragte er höflich. „Wir sind gleich in Aschaffenburg und meine Dienst endet hier.“
Peter hörte die Stimme des Kellners erst, als er seine Bitte wiederholte. Erstaunt sah er auf und zahlte. Ein Blick auf die Uhr oberhalb der Waggontür brachte Klarheit. Es war gleich Viertel nach zehn.
„Ich fürchte uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, sagte er und seine Stimme klang belegt.
„In knapp 90 Minuten sind wir in Nürnberg, dann ist unsere kleine Wiedersehensfeier vorbei. Es sei denn …“ In seinen Augen blitzte der Schalk.
Elke schaute ihn mit einem Stirnrunzeln an. „Was meinst du? Was hast du vor?“
„In einer guten halben Stunde erreichen wir Würzburg. Was hältst du davon, wenn wir aussteigen und eine Pause einlegen? Wir könnten durch die Stadt gehen und schauen, was sich verändert hat. Wann warst du das letzte Mal in Würzburg?“
„Das ist ewig her. Aber, was ist mit deinem Kongress?“
„Der ist erst morgen – ich habe Zeit. Komm schon, deine Schwester wird noch eine Weile auf dich verzichten können“, insistierte Peter.
Elke schüttelte lachend den Kopf. „Du hast Einfälle!“, entgegnete sie. „Doch warum eigentlich nicht?“
Sie gingen zurück in ihr Abteil, nahmen ihr Handgepäck und die Mäntel. Der ICE erreichte den Bahnhof von Würzburg und sie verließen den Zug.

Wie zwei Schulkinder, die den Unterricht schwänzten, gingen sie durch die Straßen. Hand in Hand bummelten sie über die alte Mainbrücke. Selbst der Sternenkranz der Jungfrau Maria, die sich als Patrona Franconiae, steinern präsentierte, funkelte in der Sonne ein wenig aufgeregter als gewöhnlich. Sie liefen wie damals die Domstraße auf St. Kilian zu, bogen nach rechts ab und gelangten ein paar Minuten später auf den Marienplatz. „Weißt du noch?“, fragte Peter „hier haben wir immer Pizza gegessen.“ Die Pizzeria gab es nicht mehr, jedoch ein kleines Restaurant mit französischer Küche lud sie zum Verweilen ein. Im Freien nahmen sie an einem kleinen Tisch Platz und bestellten Barbarie Entenbrustfilet und dunkelroten Château.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Sie plauderten und lachten, bis die Sonne hinter dem Häusermeer verschwand und nach und nach die Laternen angingen.
„Wir könnten uns ein Zimmer nehmen“, sagte Peter leise. „Es reicht, wenn wir morgen früh weiter reisen.“ Elke errötete und nickte fast ein bisschen mädchenhaft mit dem Kopf.

***

Der Speiseraum der kleinen Pension war gemütlich eingerichtet und das Frühstück war ausgezeichnet. Peter hielt Elkes Hand. Leise fragte er: „Könntest du dir vorstellen, dass wir noch einmal beginnen?“ Elkes Augen füllten sich mit Tränen. „Nein, mein Lieber es ist zu spät.“ Sie schaute aus dem Fenster und lies den Blick über die Mainbrücke und die Festung Marienberg wandern. Peter zog die Hand zurück. „Du kannst mir die alten Fehler nicht …“ Elke unterbrach ihn: „Nein, das ist es nicht. Ich habe dir längst verziehen. Peter …“, sie stockte und schaute an ihm vorbei. „Du erinnerst dich an Bernd? Er ist Hirnspezialist in Bochum. Vor zwei Wochen war ich bei ihm. Er hat mir mitgeteilt, dass ich einen bösartigen, inoperablen Tumor habe. Mir blieben noch ca. drei Monate. Ich fahre zu Rena, um mit ihr meinen Nachlass zu regeln.“

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@ Monika Thaler