Geschenktes Lächeln
Ich steige ein in einen vollen Zug. Ohne Platzkarten. Es gelingt trotzdem: ich kann sitzen.
Der schnelle Zug durchschneidet das flache Land. Er rollt sanft von einem Halt zum anderen. Wiegend. Einschläfernd. Unruhe tritt immer nur dann auf, wenn wir uns einem Bahnhof nähern. Dann erfolgen kurz vorher die Ansagen:
Verspätung oder nicht… Die Anschlusszüge warten auf diesem oder jenem Bahnsteig… Steigen Sie bitte rechts oder auch links aus!
Man beginnt sich zu verabschieden. Wünscht einander gute Weiterfahrt und begibt sich rasch zur verriegelten Waggontür. Mein Ziel ist noch lange nicht erreicht, ich kann also sitzenbleiben.
Ich sehe den jungen Mann dort hinten stehen. Ein paar Meter entfernt. Groß. Hübsch. Dunkelhaarig. Genau mein Typ. Leider ein paar Jahrzehnte zu jung. Oder ich eben zu alt. Ganz, wie man will. Ich muss ihn immer wieder anschauen. Es passt alles. Seine Gestalt. Seine Bewegungen. Seine Stimme, die ich ab und zu über die Sitzreihen hinweg hören kann.
Der Zug hält. Der junge Mann kämpft sich mit seinem Gepäck durch den schmalen Gang, kommt auf mich zu und lächelt mich an. Und ich hätte schwören können, dass er mich vorher überhaupt nicht bemerkt hat! Mich alte, unscheinbare Frau mit den bewusst grauen Haaren und den vielen Falten im Gesicht. Der man eigentlich nur Aufmerksamkeit schenkt, wenn sie anfallartig und unerwartet zu schreien beginnt oder hinterlistig irgendeine kriminelle Handlung durchzieht!
Er lächelt mich an. Oh, Wunder! Und ich lächele zurück. Was allerdings kein Wunder ist, denn als weiblicher Mensch im fortgeschrittenen Alter muss jede Situation ausgenutzt werden, um etwas Freundlichkeit zu erhalten, nachdem man jahrzehntelang eben diese Freundlichkeit und Liebe gegeben hat! Jetzt also Brotkrumen vom Tische, der fast leergefegt ist und an dem man nicht mehr speisen darf!
Ich erröte. So viel bekomme ich noch mit. Ansonsten vergehe ich unter diesen Blicken. Schmelze förmlich dahin. Dann ist er ausgestiegen, der junge Mann. Ich sehe ihn noch auf dem Bahnsteig zum Ausgang eilen und er verschwindet aus meinem Leben.
Die Erinnerung an das geschenkte Lächeln jedoch wird bleiben.
Bis ans Ende meiner Tage.
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Gisela Verges