Friedhofsfühlen

Langsam ging ich die verwaisten Wege.
Selbst das scheidende Laub wich mir aus.
Die ganze Herzschwere hatte ich eingepackt
und schleppte sie links und rechts in Tüten.
Ich fand die Stelle zwischen den alten Bäumen,
genau richtig für ein jüngst gestorbenes Gefühl.
Ich grub mit bloßen Händen ein tiefes Loch
und versenkte uns mit voller Wucht.

Als wir uns eines Tages wieder begegneten,
erinnerte ich mich an das tragische Begräbnis.
Ich rannte die altbekannten Wege entlang,
auf der Suche nach dem anonymen Grab.

Ich fand uns nicht mehr wieder.

Franziska und der Glückswächter

Als Franziska an diesem Morgen aufwachte, wusste sie bereits, dass es wieder einer dieser Tage werden würde.
Der erste genüssliche Morgengähner wurde durch Panjus etwas zu barsche Stimme unterbrochen.
„Los mach schon, Zis! Du hast heute zu tun…“

Natürlich.
Der Morgen hatte von Anfang an nach einer neuen Aufgabe geschmeckt. Und der Duft der Luft war an diesem erwachenden Tag auch ein anderer als der wohlig gewohnte des Müßiggangs.

Panju schüttelte energisch ihre kleine Wolke aus und scheuchte sie unnachgiebig hoch.
„Heute kein Sternenmüsli Zis! Ich hatte keine Zeit, dein Frühstück vorzubereiten. Ich musste jemanden im Auge behalten.“
Franziska seufzte leise auf. Lautes Seufzen mochte Panju nicht.

Panju und sein wachsames Auge dachte Franziska vor sich hin.

Die Menschen hatten gar keine Wahl. Hatte er erstmal sein Auge justiert, dann entkamen sie ihm nicht. Ihm und seinem Retterinstinkt.

„DU! Ich bin müde und hungrig. Und DU! Hast nichts Besseres zu tun, als mich viel zu früh zu wecken und mir mein Frühstück vorzuenthalten.
DU!!! Bist mir eine Erklärung schuldig!“

Und mein Frühstück. Aber das sei nur nebenbei bemerkt und nicht laut ausgesprochen.

Panja verfiel in dumpfes Schweigen.
Er packte stoisch ihre Sachen in ihren kleinen Reiserucksack und vermied den Blick in ihre Augen.

„Nun sag schon Pan. Was ist jetzt wieder los?“

„Ähm…“

Im Grunde liebte Franziska diese Hilflosigkeit ihres Mentors.
Aber es gab eben auch Momente, in denen sie lieber in aller Ruhe ihr Tagwerk verbringen würde als Pans merkwürdigen Eingebungen zu folgen.
Und das auch noch ohne Frühstück!

„Da unten ist wieder so einer…“

Aha.

„SO EINER?“ hakte Franziska ratlos nach.

„Zis, du weißt doch, was los ist. Da ist wieder einer, der lieber schweigt anstatt zu reden. Der schießt sein Glück mal wieder in den Wind, anstatt ihm Worte zu verleihen.“

„Wie heißt er?“ fragte Franziska vorsichtshalber nach.

Panju explodierte schon vor dem Fragezeichen. „Das tut doch überhaupt nichts zur Sache! Du erkennst ihn auch so!“

Huch!
Es schien tatsächlich dringend zu sein.

Ohne ein weiteres Wort schaltete Franziska ihr Navigationssystem ein, schulterte ihren Rucksack und brauste los…

Fenstergeschichte

Wie der Wind, der sie sicher im hohen Norden erwarten würde, wirbelte sie gedankenverloren durch die Wohnung. Irgendwie war das immer wieder zwanghaft, dass sie darüber nachdachte, ob sie sich bei allen wichtigen Menschen ihres Umfeldes auch verabschiedet hatte. Und ob die Wohnung piccobello war, denn wenn sie dann in zwei Wochen wieder kam, dann wollte sie nicht direkt putzen müssen. Gab es so etwas wie einen Vorurlaubs-Putzzwang? Damit die Nachbarin, die in dieser Zeit die Wohnung versorgte auch ja nicht die Nase rümpfte?
Früher war das noch schlimmer. Da meinte sie auch noch alle Fenster putzen zu müssen, bevor es dann endlich los ging in die lang ersehnten Ferien.

Mit diesen Gedanken verweilte sie einen kurzen Moment am Fenster, als sie das junge Paar über die Straße gehen sah. Sie lachten und küssten und küssten und lachten. Die Hände gingen auf Reisen und die Schritte wurden immer langsamer. Mitten auf der Straße blieben die Beiden stehen und vergaßen die Welt. Ein langer, ein wundervoller Kuss muss es wohl gewesen sein, als die Autos in ein warnendes Hupkonzert verfielen.

Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und ließ die Haare im Wind flattern, lachte sich Richtung Himmel und nahm den Jungen auf ihre Arme und trug ihn über die Straße auf den rettenden Bürgersteig. Und dort setzten sie sich erst mal hin, um sich auszuschütten vor Lachen und sich wieder und wieder zu küssen.

Welch eine wunderbare Szene, dachte sie, und ein Lächeln überflutete ihr zuvor noch so ernstes Gesicht. Wie lange war das her, dass sie so jung und unbekümmert den Verkehr zum Erliegen brachte und einfach nur das tat, wonach ihr der Sinn stand? Küssen und lieben und lieben und küssen. Mitten in der Rush Hour auf einer Hauptverkehrsstraße. Wie lange war das überhaupt her, dass sie so frisch verliebt und unbekümmert alles um sich herum vergessen konnte?

Tage, an denen sie einfach blau machte, um mit ihrem Liebsten im Bett zu frühstücken.
Nächte, in denen der Schlaf so nebensächlich war wie eine Steuererklärung.

Es war zu lange her, als dass sie noch eine klare Erinnerung dazu hatte.

Ihr Blick suchte erneut das Paar auf der Straße.
Doch die zwei Verliebten waren längst weiter gezogen. Küssend, lachend, raufend.

Und plötzlich wusste sie, was sie mit ihren Vorurlaubsstunden anfangen würde.
Keinesfalls putzen.
Noch weniger über längst vergangene Liebschaften nachdenken.

Die Tür hinter sich zuziehen und dem Meer entgegen eilen.
Nackt im Regen tanzen und die Füße in Riesenpfützen wässern.
Wellen zählen und Himmel küssen.

Und neue Erinnerungen erleben.

Bild: eigenes