Von jeher

Abgetragene Gedanken sorgen für aufgesogene Erinnerungen, die bald welk vor sich her laufen, als wären es bloße Bilder. Noch greift Vergangenheit, noch ist sie. Bald schon wird sie sein und irgendwann teilt sie gestriges in gerechte Momente. Spulst sie wie Filme ab. Siehst sie auf Polaroid, wie große Portraits. Was immer auch sie bewirken, sie sind da und sorgen für lebendige Augenblicke, derer man sich nicht mehr wehrt. Ich stehe an einem Momenteblock und trage Steine ab, weichgespült durch Wasser, seicht und sanft. Symbol für mein Leben, dass ich tageweise verabschiede. Ich halte dran fest, ich halte dran fest. Dass wieder Montag wird, Monatsanfang, Jahreswechsel. Meine Hoffnung springt auf und ab. Von jeher ist Leben alles, was ich will. Ohne Sinn zu hinterfragen, tragen sich Reste darin auf. Moderne Poesie stirbt langsam, wie ich.

Meine Träume

Ich weiß gar nicht, ob ich es so gut erzählt bekomme, wie ich es erlebte. In der Nacht von Silvester zu Neujahr träumte ich, ich läge neben meinem Mann, mein Kopf ruhte auf seiner Brust, wie so oft. Ich spürte ihn, als sei er wirklich da.
»Schatz«, sagte er, »im Kühlschrank sind noch der Kartoffelsalat und Bockwürstchen.«
»Oh«, seufzte ich, »soll ich uns etwas holen?«
»Ich geh‹ mit«, raunte er.

In der Küche wurde ich, vor dem Kühlschrank stehend, wach. Da waren weder der Salat noch die Würstchen, da war nur meine Enttäuschung, dass es nichts weiter als ein Traum war. Ich legte mich wieder ins Bett und versuchte meine Traurigkeit zu bewältigen.

Letzte Nacht träumte ich, dass er mit mir am Strand entlang spazierte. Mich an der einen und Niall, am Zügel, an der anderen Hand.
»Wer sind die vielen Leute?«
»Das«, sagte er lächelnd, »sind die Wartenden.«
»Worauf warten sie denn?«
Wir blieben kurz stehen, er wandte sich mir zu und sah mir tief in die Augen:
»Dass sie abgeholt werden.«
»Oh«, hörte ich mich, »und wann werden sie das?«
»Nie«, atmete er aus.

Als ich wach wurde, war ich schweißnass.

Tage ohne Vorkommnisse

Die letzten Tage habe ich fast nur geschlafen. Zwischen Medikamenten, Essen, den Nächten und dem Nachtschweiß lag ich minutenweise wach und sah aus dem Wohnzimmerfenster. Gut, dass ich mein Bett hochfahren kann, so hatte ich eine gute Aussicht, auch auf die Bäume.
»Es ist windig, oder?«, fragte ich meine Freundin.
»Ja, es soll noch stürmischer werden«, lächelte sie.
Heute war mein Arzt da, ich saß in der Küche. Wir sprachen über die Pumpe und was mit dem Juckreiz ist, gegen den ich jetzt auch Tabletten bekomme.
»Es ist besser geworden, aber noch nicht ganz weg.«
Meine Freundin redet meist für mich, ich vergesse oft, was ich eigentlich wollte. Vor der Lesung will mein Doc kommen und mir Cortison spritzen, er sagte, das wirke wie ein Aufputschmittel. Er weiß, wie gerne ich sie selbst halten will, obwohl wir natürlich einen Plan B haben, falls ich es nicht schaffe. Ein paar Texte habe ich schon in dem Buch markiert.
»Glaubst du nicht, ich kann auch spontan entscheiden?«
»Das ist nicht gut«, meinte meine Freundin.
Wahrscheinlich hat sie recht, es ist meine erste und wahrscheinlich auch letzte Lesung, ich weiß nicht, wie so etwas genau abläuft.
»Ich werde den Eintritt dem Hospiz spenden.«
»Das ist eine schöne Geste.«
»Ja«, nickte ich.

Diese Tage ohne Vorkommnisse sind wie Luft anhalten und durch.

Und wenn, dann ohne mich

Es ist Abend, dunkel bereits, obwohl es noch so früh ist. Letztens sind wir ungefähr um diese Zeit heimgekehrt und ich sagte:
„Wow, der Himmel ist ein Foto wert.“
Heute kam mein Arzt und schloss die Schmerzpumpe an. Was es alles gibt, ich war total überrascht. Ja, ich wusste, dass es diese Pumpe gibt, aber wenn man sie dann sieht, ist es noch mal was anderes. Man kann sie sogar an dem Rollator befestigen. Nach vier Stunden muss man sie wieder an den Strom anschließen, spätestens dann ist das Akku leer. Ich brauche jetzt nur noch drücken und schwupps, habe ich neben der automatischen Dosis, die der Arzt eingestellt hat, eine zusätzliche. Das ist genial, ich habe heute wirklich kaum Schmerzen gehabt. Die Müdigkeit macht mir Probleme, ich schlafe und schlafe und schlafe.

„Müdigkeit ist der Schmerz der Leber“, hat mein Mann immer gesagt.

Die Leber macht fast wirklich keine Schmerzen, auch wenn „gar keine“ nicht stimmt. Ich redete mit meiner Freundin über die Kaffeefahrt, danach über das Jahrestreffen des Literaturforums. Irgendwie ist es noch lange hin. Ich weiß gar nicht, ob ich da noch lebe, auch wenn ich bereits die erste Prognose der Ärzte überlebt habe. Mir schwirrt der Tod im Kopf herum. Vielleicht ist es auch so eine Art Angst, vielleicht aber auch nur diese Ungewissheit. Ich weiß es nicht.

„Was, wenn ich die Lesung diesen Monat nicht halten kann?“, fragte ich.
„Dann übernehme ich das, mach dir keine Sorgen.“
„Okay“, sagte ich, „dann ist gut.“

Ich würde mir wünschen, dass meine Freundin an dem Jahrestreffen teilnimmt, mit oder ohne mich. Eigentlich kümmere ich mich jetzt schon um ihre Ablenkung und weiß, das will sie sicher nicht. Warum ich mich so sorge? Weil ich jeden Tag in ihr Gesicht schaue, jeden Tag sehe, wie sehr sie mich nicht loslassen will. Dann komme ich wieder bei diesem Spruch an, den sie stets mit meinem Bruder teilte:
„Gehen müssen, auch wenn man bleiben will.“
Ich will ja gar nicht bleiben, ich möchte nur meine Dinge erledigt wissen, und wenn ich nur die Hälfte hinbekomme.

Hin- und hergerissen. Ich.

Morgen ist immer ein anderer Tag

Heute Morgen, als meine Freundin mir sagte, ich sei unmöglich, habe ich geantwortet:
„Du sahst mich sicher schon mit Uschi, mein Köfferchen in dem Körbchen, durch die Landschaft flüchten, oder?“
„Ja“, nickte sie, „und das tue mir ja nie an.“
„Ich bin zu krank“, sagte ich, „und draußen ist es kalt.“
Dann fingen wir an zu spinnen, gemeinschaftlich, was meine Laune von „tief betrübt“ auf „frohgesinnt“ springen ließ. So stellte ich mir zum Beispiel vor, wie sie auf der Wache saß, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.
„Die Uschi hat eine Seriennummer“, erklärte ich, weil ich die in dem Moment entdeckte, „die musst du dir notieren.“
„Warum?“
„Damit du sagen kannst, dass du sie vermisst und die Frau, die daran hängt, auch.“
„Oh Gott“, lachte meine Freundin lauthals, und das um nicht ganz neun Uhr am Morgen.
„Die stecken mich in die Zwangsjacke.“
„Dann komme ich, mit Uschi, und befrei dich.“

Eigentlich klingt das jetzt wirklich bescheuert. Ich bin geneigt, es aufs Morphium zu schieben.

Wenn Trauer und Schlaflosigkeit müde machen …

Heute war ich müde und habe fast den ganzen Tag verschlafen. Als meine Freundin kam und gekocht hat, lag ich da und dachte:
»Ich will nicht, dass sie sich überfordert. Ich habe sie gar nicht verdient. Wieso macht sie das alles für mich? Ich bin nur noch eine scheiß Belastung.«
Morgens, bevor sie zur Arbeit geht, kommt sie vorbei. Sie ›muss‹ mich wecken, damit ich meine Medikamente einnehme. Dafür gibt es leider diese festen Zeiten, die nicht überschritten werden dürfen. Wenn ich die halbe Nacht wach war, bin ich morgens wie gerädert. Sie kocht Kaffee, bringt mir eine Tasse, weckt mich. Danach muss sie los. Gegen Mittag kommt sie vorbei, isst eine Kleinigkeit, nimmt den Einkaufszettel mit und kommt gegen Abend mit dem Einkauf zurück, kocht, spült und wartet, bis ich wieder meine Medikamente einnehme. Am Wochenende gehen wir spazieren, ich liebe den Park in der Nähe, die Erft, die Brücken, die ich bereits fotografiert habe. Als wir uns kennenlernten, sind wir auch durch diesen Park. Da war ich noch fit und brauchte keine Gehhilfe, der ich auch noch einen Namen gebe. Wie bescheuert bin ich eigentlich?

Heute ist einer dieser Tage, da bin ich wütend, verzweifelt, traurig und fühle mich überflüssiger als eine Anstecknadel. Ich telefonierte mit meinen Söhnen und machte ihnen vor, wie tough ich bin. Natürlich spürten sie, dass ich meine Laune über Bord geworfen hatte, bevor das Telefon klingelte. Ich möchte nicht, dass sie mich so erleben.

»Warum denkst du nur, du wärst uns eine Last?«, fragte meine Freundin.
Warum? Weil es so ist. Weil die Tage lang und die Nächte länger sind. Weil ich zu viel Zeit habe, darüber nachzudenken. Was weiß ich! Wenn ich am Fenster stehe und rauche, sehe ich nach unten, sehe der Asche, die ich abstreife, nach, erschlage irgendein Insekt, weil ich es nicht, an mir vorbei, in die Wohnung lassen will und denke:
»Das hätte ich sein können«, wobei ich wieder weiß, dass ich nie eins werden möchte. Reinkarnation! Ich bin noch nicht fest, in dem, was wirklich ›danach‹ passiert.
Ich glaube lieber an den Raum, an die Tür, durch die ich gehe, in deren Rahmen mein Mann auf mich wartet, wenn es so weit ist. Manchmal will ich, dass es vorbei ist, einfach so. Manchmal habe ich Angst, dass es zu schnell vorbei ist, und ich nicht mehr ankomme. Darauf habe ich keinen Einfluss. Vielleicht bin ich gar nicht so sehr im Reinen mit mir, wie ich mir glauben machen will.

Morgen weiß ich es, vielleicht.

Heute aber fühlte ich mich nutzlos in dieser Welt. Ich sah auf mein Leben zurück. Ein verrücktes Leben, ein harter Job, den ich bis zur Erschöpfung geliebt habe. Eine Ehe, in der es mal hoch und dann steil bergab ging. Dann sehe ich meinen Mann, erinnere mich an den Tag, an dem ich ihn fand. Wie er da lag, so tot, so kalt, so weit weg, dass niemand mehr ihn mir zurückholen konnte. Ich will nicht, dass mich jemand so findet. Ich möchte nicht, dass ich in jemandem diese Angst auslöse, die ich oft hatte.
»Lebt er noch, wenn ich nach Hause komme?«
Die sechs Etagen mit dem Fahrstuhl, der Schlüssel in der Tür, dann mein aufatmen: »Gott sei Dank« … bis zu diesem Tag, an dem ich nicht aufatmete, weil er nicht mehr atmete. Das tat weh, so weh, dass es keine Worte gibt, die das ausdrücken. Vielleicht ist das richtig so, denn wenn, dann würde man auch die letzte Instanz des Schmerzes in Worte zu packen wissen. Wozu?

Als ich soeben am Fenster stand, dachte ich:
»Wenn du jetzt deine Koffer packst und gehst …«, und dann war da dieses:
Lieber ein Ende mit Schrecken!

Gott?

Soll ich anfangen an Gott zu glauben, weil ich Krebs habe? Das werde ich nicht. Was wissen wir denn über den? Nicht mehr als die Pfaffen uns einzureden versuchen. Ich glaube an etwas, das nicht in Gut und Böse teilt, das nicht fordert, dass ich meine Sünden beichte, jemandem beichte, der genauso scheißt wie ich. Wenn Gott alles verzeiht, wozu braucht es eine Hölle und wer bitte hat die, den Menschen eingeredet? Nein, für mich ist Gott kein Thema. Wie ich darauf komme? Ich wurde gefragt, ob ich an ihn und seine heilende Kraft glaube. Wo ist dieser Gott eigentlich, wenn Menschen durch Unfälle ums Leben kommen? Wenn Menschen im Krieg sterben oder Kinder missbraucht, gefoltert, verkauft oder geopfert werden?  Ich könnte diese Fragen erweitern. Für mich ist Gott nichts weiter als ein Placebo-Effekt, der den Menschen – auch heutzutage noch – erfolgreich eingeredet wird, damit die Kirche nicht abkackt. Wenn ich zu hören bekomme, der Glaube an Gott habe einen Krebskranken geheilt, frage ich mich, warum dieser Glaube nicht stark genug ist, andere, vielleicht sogar wichtigere, Wunder zu vollbringen. Ich will nicht behaupten, dass es Gott nicht gibt, aber ich behaupte, es gibt ihn nicht so, wie die Kirche ihn meint.

Eine gute Nachricht

Heute war es so weit. Um 15 Uhr fuhren wir los nach Köln zum MRT. Noch zweimal, dachte ich, dann ist es erledigt. Dort angekommen warteten wir. Ich rauchte noch schnell eine Zigarette und trank etwas. 20 Minuten ruhig liegen – das ist wie Nachsitzen. Ich wurde um 17.30 aufgerufen.
»Ich habe eine gute Nachricht für Sie«, sagte die Ärztin, »wir machen beide Untersuchungen heute.«
»Und wie lange dauert es dann?«
»30 Minuten.«
Das war annehmbar. Ich legte mich hin, bekam den Alarmknopf in die Hand und lag ruhig, während ich an meinen Mann dachte, an Mc Donalds, die besten Pommes der Welt, an meine Freundin, die draußen wartete, an meinen Mann, an meinen Mann, an meinen Mann … die Zeit verflog. Danach wurde ich zur Ärztin gebeten. Sie sagte zuerst:
»Gute Nachrichten, die Wirbelsäule ist nicht erkrankt, Sie haben nur einen Bandscheibenvorfall.«
Aufatmen. Freude.
»Auf den Rippen sind mehrere Metastasen, aber die Leber«, verdunkelte sich ihr Gesicht.
»Ja, ich weiß, die sieht schlecht aus, aber die Wirbelsäule ist ok, das war mir wichtig.«
Nach einigen Worten erhob sie sich, drückte mir die Hand und sagte:
»Ich wünsche Ihnen noch ein paar schöne Tage.«
»Hoffentlich 365«, dachte ich ohne es auszusprechen.
Ihr Gesicht sprach nämlich dagegen. Meine Freundin und ich fuhren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, ich wollte vor der Rückfahrt noch eine rauchen und einen Kaffee zum Mitnehmen. Auf dem Weg zum Parkhaus trafen wir die Ärztin noch mal, sie hatte Feierabend, kam aus dem Aufzug und sagte:
»Sie wollen sicher ins Untergeschoss.«
»Wir nickten.«
Kurz nur fuhr sie mir mit der Hand über die Schulter und meinte:
»Alles Gute.«
»Oh Gott«, sagte ich zu meiner Freundin, »morgen bin ich wahrscheinlich tot, oder?«
Sie lachte und antwortete:
»Du bist unmöglich.«
»Hast du nicht gesehen, wie sanft sie mir über die Schulter gestreichelt hat? So im Vorbeigehen?«
»Nein, ich habe nach vorne geguckt.«

Dieses: »Ich wünsche Ihnen noch ein paar gute Tage«, muss ich unbedingt mit meinem Arzt besprechen. Ich weiß, dass ich keine Jahre mehr habe, aber bitte, bitte, 18 plus eins Monate müssen mir gegönnt sein.

Hey, meine Wirbelsäule ist ok. Das ist die beste Nachricht, die ich bekommen habe, seit der Krebs zurück ist. Ich weiß, er ist sonst überall, aber NICHT in der Wirbelsäule. Eine weitere gute Nachricht ist: Ich wurde auf eine andere Schmerzmitteldosis Hydromorphon eingestellt und bin jetzt mit zweimal täglich 24 mg fast schmerzfrei. Neben den Schmerztropfen, die ich von 20 auf 40 erhöhen durfte und dem etwas schneller wirkendem Sevredol kann ich gut durchschlafen, wenn ich einschlafen kann. Womit ich immer noch Probleme habe, ist: Movicol. Egal, ob flüssig oder als Pulver, beides wird mit Wasser verdünnt, es schmeckt wie Kleister. Ich wünschte, da würde die Pharmaindustrie etwas erfinden, das man auch runterbekommt, ohne sich übergeben zu wollen.

Sie weiß es nicht

Nein, sie würde nicht wollen, dass ich ihren Namen nenne, weshalb ich das nicht tue. Ich kenne sie seit fast fünf Jahren. Damals ging sie durch die Hölle. Jetzt hört sich Hölle immer sehr krass an, jeder versteht etwas anderes darunter und keiner würde es vielleicht so nennen, der es nicht miterlebt hat. Ich erlebte sie mit. Hautnah. Mein Mann bat mich eines Abends:
»Fahr zu ihr, rede mit ihr, vielleicht ist es besser von Frau zu Frau.«
Ich kannte sie nicht, wusste nicht, wer sie war, wusste nicht, was sie wusste, erlebt und mitgemacht hatte. Wir trafen uns an einem Bahnhof, fuhren essen, gingen spazieren und näherten uns vorsichtig an. Ich spürte ihre Unsicherheit.
»Wenn ich meine Zuversicht verliere«, sagte sie, »verliere ich alles.«

Erpresst, beschattet, ausspioniert wurde sie. Allein, weil sie mit meinem Mann und meinem Bruder befreundet war. Ich hörte ihr zu, sie mir. Ich versuchte zögerlich ihr klarzumachen, dass es nicht aufhören wird, dass die immer da sein werden und nie aufgehört haben, uns zu erpressen, zu verfolgen, zu beschatten und dass sie, wenn sie sich nicht abwendet, in ständiger Gefahr schwebt. Man hatte ihr gedroht. Ich fühlte die Panik, die sie hatte. Mein Mann versuchte seins zu tun, sie zu beschützen. Mein Bruder blieb lange fern von ihr, auch wenn die Sehnsucht ihn fast auffraß. Eine Liebe und Freundschaft, die nicht sein durfte.

Als ich 2011 das erste Mal erkrankte, kam sie, trotz der Gefahren, zu mir in die Klinik. Ich saß draußen und hielt nach ihrem Wagen Ausschau. Wir brauchten eine Weile, bis wir uns vertrauen konnten, obwohl von Anfang an etwas Vertrautes zwischen uns war.
»Was quatscht ihr wieder solange?«, fragte mein Mann, als ich eins meiner täglichen Telefonate mit ihr führte.
»Brummelt er wieder?«, lachte sie, die ihn gehört hatte.
»Ja, er will noch weg, wir sollten langsam auflegen.«

Mit den Jahren wurden wir gute Freundinnen, heute ist sie mehr als eine Freundin, sie gehört zu meiner Familie, wird von meinen Söhnen respektiert und angesehen. Immer wenn ich sage:
»Ich habe dich nicht verdient«, sieht sie mich liebevoll an.
»Ich habe Angst, wenn du nicht mehr da bist«, sagte sie vor ein paar Tagen.

Eine Freundschaft, wie diese, ist selten geworden. Sie und ich haben um unsere Männer getrauert, die kurz nacheinander starben. Sie stand hinter mir, als ich die Trauerfeier organisierte, sie half mir, als ich am Boden war, wir weinten zusammen. Ich übergab ihr den Besitz meines Bruders und fühlte, wie er nickte. Ich selbst behielt nur wenig, das meiste teilte ich unter meinen Söhnen auf. Was brauche ich noch, außer ein paar Erinnerungsstücke? Ein bisschen von dem, woraus ich die Nähe meines Mannes ziehe, der so tief in mir ist, dass er zwar gestorben, aber nicht tot, für mich, ist.

Sie holte mich zu sich. Ich lebe jetzt ruhig und entspannt. Es wurde still, fast friedlich. Weihnachten und Silvester sind geschafft. Niemand mehr, der uns jetzt noch nach dem Leben trachtet. Warum auch? Ich bin die Letzte und werde 2015 nicht überleben.
»In mir ist noch so viel Neugier«, sagte ich heute, zu der wunderbarsten und ehrlichsten Person die ich kenne.
»Dann lass sie uns angehen«, lächelte sie, die nicht weiß, wie stark und groß sie ist.

Die Schmerzpumpe, Uschi und ich

Wenn ich in 10 Tagen, also nach den beiden MRTs und der Lesung, die Schmerzpumpe bekomme, heißt es:
»Stoff im Stundentakt und Schmerzfreiheit.«
Meine Bedenken waren ja, das, wenn ich jetzt schon die volle Dröhnung bekomme, was ist, wenn ich erst in den letzten Atemzügen liege? Gibt es dann noch etwas, das mir diese Schmerzen nimmt?
»Ja«, sagte mein Arzt.
Das beruhigte mich. Ich sah Krebskranke, die litten in den letzten Tagen.
»Sie sollen den Schmerz nicht aushalten«, sagte der Dok, »dann schwindet die Lebensqualität.«
Er ist fürsorglich, kommt zu mir nach Hause, versorgt mich gut, ist da, wenn ich ihn brauche und ganz wichtig: Er hört mir zu.

Vor der Lesung möchte ich mich nicht an die Pumpe anschließen lassen, die über den Port laufen wird. Immer wieder fällt mir ein, wie gut die Endscheidung, einen Port implantieren zu lassen, war. Die Schmerzen, die er anfangs bereitete, sind vergessen, obwohl ich mir geschworen habe, die nie zu vergessen. Während der ersten Chemo war ich mir schon selbst dankbar, sah ich doch andere Patienten, in deren Venen herumgestochert wurde, weil die bereits durch die Therapie gelitten hatten. Inzwischen kann mir sogar Blut durch das Implantat abgenommen werden. Ich bin nie regelmäßig zur Reinigung des Ports gegangen. Letztes Jahr wurde er erst mal wieder reaktiviert.
»Was ist, wenn das nicht geht?«, fragte ich.
»Dann muss er ausgetauscht werden.«
»Na, das lehne ich kategorisch ab.«

Ich bin und war nie eine leichte Patientin gewesen. Wie mein Mann verließ ich die Kliniken, sobald ich wieder laufen konnte. Wir waren uns sehr ähnlich oder wir arbeiteten darauf zu. Irgendwie haben wir uns nie Vorwürfe wegen unserer Unvernunft gemacht. Wenn man immer auf volles Risiko gelebt hat, sind abgeschlossene Räume wie ein Horrortrip, weshalb Krankenhauszimmer da keine Ausnahme machten.

Heute habe ich mit meiner Freundin wieder über das Hospiz gesprochen. Sie möchte mich gar nicht an eins verlieren.
»So, wie es jetzt ist, kann ich zu jeder Tages- und Nachtzeit zu dir kommen«, sagte sie.
»Und wenn ich nicht mehr kann? Willst du mir dann den Hintern abwischen?«
»Würde dich das deinetwegen oder meinetwegen stören?«
»Beides.«
»Dann könnte man immer noch einen Pflegedienst hinzuziehen.«
Ich dachte, dass ich den Toilettenwagen ja schon habe, vielleicht war es in dem Augenblick ein unangemessener Gedanke, ich brauche den ja noch nicht, aber irgendwie kam er mir in den Kopf und ich grinste.
»Wir können uns am Freitag ein Einzelzimmer in einem Pflegeheim ansehen«, hörte ich meine Freundin.
»Gut.«

Später telefonierten wir noch miteinander und kamen wieder darauf zu sprechen.
»Ich kann nicht damit umgehen, dass du nicht mehr da bist.«
»Und ich kann nicht damit umgehen, dass ich dich überfordere.«
Sie atmete laut aus. Es ging eine Weile hin und her, dann entschieden wir, dass wir abwarten, was passiert.
»Ich habe meine Uschi, mein Krankenbett und bald eine Schmerzpumpe. Vielleicht ist es am Besten, den Rest auf uns zukommen zu lassen«, lenkte ich ein.
»Wie habe ich darauf gewartet«, lächelte sie.