Stalking Lilly
Gleich ist es halb neun. Die Kinder sind immer noch nicht im Bett. Großer Aufstand. Der Höhepunkt meiner Tour.
„Die anderen schlafen schon um acht“, schimpft die Mutter. Gequengel.
„Nur noch fünf Minuten.“
Es ist jeden Abend dasselbe. Der Vater will schlichten.
„Am Wochenende dürft ihr länger.“
Ich synchronisiere die Szene hier draußen im Regen. Durch die Schallisolierten Fenster bekomme ich vom wahren Dialog nichts mit. Halb so schlimm. Ich kenne meine Karstensens. Beruhigt gehe ich weiter. Das nächste Haus, nur zwei Stockwerke höher, im dritten Fenster von links. Frau Mott hat wieder Männerbesuch. Dieser hier ist neu. Misstrauisch mustere ich den schwitzenden Mann dort oben im Schlafzimmer. Er ist schlecht im Bett, das sehe ich sofort. Verzieht das Gesicht beim Sex. Fast schon traurig. Ich frage mich, was wohl aus Christian geworden ist. Gelangweilt starrt Frau Mott an die Decke. Den Orgasmus täuscht sie vor. Das hat sie schon lange nicht mehr gemacht. Armer Neuer. Ich taufe ihn Leopold.
Arme Frau Mott. Armer Christian. Kopfschüttelnd ziehe ich zur nächsten Adresse. Mal sehen, was Herr Kuhnert heute anhat. Er ist Transvestit. Manchmal sieht er sogar tatsächlich wie eine Frau aus. Heute eher nicht. Obwohl die Schuhe ganz schön sind. Aber Rosa steht ihm nicht. So wie er sich im Spiegel betrachtet, ist er derselben Meinung. Ich kenne ihn ja nun schon eine Weile. So was sehe ich ihm an. Ich sehe alles. Jeden Abend. Bei jedem Wetter. Durch jedes Fenster. Ich bin ein Voyeur. Nächtlich auf Tour. Ich streife durch die Stadt, schaue in Fenster, werfe Blicke in die Leben anderer Leute. Sehe in ihre Seele, schaue hinter die Fassade. Wortwörtlich. Allabendlich. Heimlich. Alles nur Ausschnitte. Keine feste Bindung, bloß nicht. Eine Reise in fremde Vertrautheit. Nähe aus sicherer Entfernung. Manchmal frage ich mich, ob ich allein bin. Ich bin es nicht. Dort draußen, in jeder einzelnen Wohnung, in jedem Haus. Meine Karstensens, Motts, Kuhnerts, wie sie alle heißen. Interessante Menschen, in der ganzen Stadt verteilt. Ich freue mich auf sie, jeden Abend. Sie wissen wahrscheinlich nicht einmal, dass ich existiere. Aber mit Einbruch der Dämmerung sind sie für mich da. Meine persönliche Reisegruppe auf meiner Tour. Geben mir Fensterfront um Fensterfront Geborgenheit. Sicherheit. Routine. Routine kommt von Route. Glaube ich. Meine Route ist immer die gleiche. Sie dauert vier Stunden und 23 Minuten. Vier Stunden und 23 Minuten, in denen ich so sein kann, wie ich sein möchte – unsichtbar, unbehelligt, trotzdem beteiligt.
Das heißt, so war es bis vorgestern! Seit vorletzter Nacht bin nicht mehr unsichtbar. Ich werde verfolgt. Gestört. Eine ungewollte Reisebekanntschaft hat sich mir aufgedrängt: Lilly. Vielleicht heißt sie auch Marlene oder Nadine. Egal. Für mich ist sie Lilly. Unheimliche, verstörende, fremden Menschen nachlaufende Lilly. Mir nachlaufende Lilly! Manchmal winkt sie mir sogar. Welche Sorte Mensch verfolgt nachts fremde Leute? Da hinten steht sie, am Zigarettenautomat. Denkt, ich sehe sie nicht. Aber ich sehe alles. Verdrießlich beschleunige ich meinen Schritt. Ich bin spät dran. Frau Gröntkens in Nummer 33 wird gleich duschen und sich dann bettfertig machen. Sie ist sehr attraktiv. Ich glaube, dass weiß sie auch. Sie schließt die Vorhänge immer erst hinterher. Vielleicht ahnt sie auch, dass ich da bin. Tut es für mich. Das macht es noch aufregender.
„Bei dem Wetter heute wird Frau Gröntkens bestimmt früher die Vorhänge zumachen. Es zieht ganz schön. Meinst du nicht auch?“
Erschrocken fahre ich herum. Vor mir steht Lilly. Meine Nemesis! Wie hat sie das gemacht? Sie war doch gerade noch gut hundert Schritte entfernt. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Bin abweisend. Abgeklärt.
„Bitte was?“
Sie lächelt. Ich muss zugeben, sie sieht süß aus, wenn sie lächelt. Mit ihren langen roten Haaren, die frech unter der Strickmütze hervor schauen. Ihr dunkler, eng geschnittener Mantel gibt den Blick frei auf einen kurzen, grauen Rock. Sie hat schöne Beine. Schwarze, wadenhohe Lederstiefel. Wie aus dem H&M-Katalog. Sexy. Was ist nur los mit mir?
„Du solltest dich beeilen.“
„Kenne ich dich?“
Ich frage nur, um gemein zu sein.
„Ich mein ja nur. Du hängst bereits zweieinhalb Minuten. Du störst deine Tour.“
Nicht ich störe meine Tour, sondern sie!
„Woher kennst du meine Tour?“
Sie geht gar nicht darauf ein.
„Obwohl die arme Frau seit ihrer OP nicht mehr so beweglich ist. Sie bückt sich weniger, findest du nicht auch? Wir sollten uns eine neue Adresse an ihrer statt überlegen.“
Wir? Ich schaue hoch zum Fenster. Die frisch geschlossenen Vorhänge schaukeln leicht. Mist. Aber sie hat Recht. Auch das noch.
„Warum verfolgst du mich?“
„Schau nicht so böse. Das gibt Falten. Ich finde dich hübscher, wenn du lächelst.“
Etwas in mir schmilzt wie Eis in der Sonne. Was soll das? Vergeblich versuche ich mich dagegen zu wehren. Sie stört, und damit Basta!
„Hör auf, mir nachzulaufen!“
Aufreizend legt sie den Kopf schief. Ich möchte weitergehen, doch schaffe es nicht. Ihre schönen Augen sehen direkt in mich hinein.
„Ich mag deine Grübchen, wenn du lächelst, weißt du?“
„Hast du nicht gehört? Lass mich in Ruhe!“
Ich bemühe mich, nicht zu stammeln. Sie streckt mir ihre Hand entgegen.
„Ich heiße Lilly.“
Von allen Namen dieser Welt trägt sie diesen!
„Ehrlich?“
„Natürlich ehrlich. Wieso fragst du?“
„Nur so.“
Wie ein Idiot starre ich sie an. Sie hakt sich bei mir ein. Zu meiner eigenen Überraschung lasse ich es zu. Es fühlt sich seltsam – vertraut an. Schön. Richtig. Sie riecht gut. Während ich noch überlege, was hier gerade passiert, gehen wir weiter. Ich bin zu perplex, um die Ironie dieser Situation zu würdigen. Ein Voyeur und seine Stalkerin. Zwei rastlose Seelen, auf einmal gemeinsam unterwegs. Bis zur Wohnung von Melchers sprechen wir kein Wort.
Sie hat mir nie gesagt, warum sie mir nachläuft. Aber inzwischen ist es mir egal. Im Gegenteil. Unterwegs sein ohne sie? Für mich unvorstellbar! Ich gehe allerdings nicht mehr so oft auf Tour. Nur an Tagen wie heute, wenn ich weiß, dass der Regen die Menschen in ihr Zuhause sperrt. Dann bin ich immer noch unterwegs. Schaue nach dem Rechten bei Kuhnerts, Motts und Karstensens. Vergewissere mich, dass alles läuft. Lilly folgt mir. Immer. In sicherem Abstand, dass ich sie nicht sehe. Ich bemerke sie natürlich trotzdem. Ich sehe alles. Aber das lasse ich sie nicht wissen. Der Sex ist besser an solchen Abenden. Auch das lasse ich sie nicht wissen. Inzwischen wohnen wir zusammen. Der Voyeur und die Stalkerin. Der Intimitätsreisende und seine Reisebegleiterin. Voyeur, Voyage – beides derselbe Wortstamm. Sehen und reisen. Unterwegs sein, um zu sehen. Irgendwie passend, finde ich.
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Thorsten Hinck
Kadiya
19. Nov. 2010
Der Text besticht meiner Meinung nach durch seine Ruhe und Feinsinnigkeit. Es hat mir Spass gemacht, den Ideen des Autors zu folgen. Ich würde gerne mehr davon lesen!
Viel Glück beim Wettbewerb!
Inga Hetten
28. Nov. 2010
Bisher mein Favorit unter den „unterwegs“-Beiträgen! Dabei sind Liebesgeschichten gar nicht so mein Ding.
Aber die hier ist anders. Das skurrile Steckenpferd des Helden. Die Liebe, die ihm nachläuft. Die er verjagen will, von der er sich behelligen lässt.
Und es ist eine Präsens-Geschichte in der ersten Person Singular und ich habe es erst beim zweiten Lesen bemerkt!! Sonst bekomme ich Schreikrämpfe bei dieser Erzählperspektive-Zeit-Kombination.
Fazit: Hervorragend. 😉