Unterwegs im Watt

Ein Wochenende in den 90er Jahren. Mit der Fähre zur Insel ließen viele das Festland zurück. Insulaner, die nach Hause wollten, Touristen am Anfang des Urlaubs, oder auch solche, die nur einen Ausflug machten. Bevor die Fähre den Schiffsweg zum Hafen einbog, zog sie in Sichtweite des Badestrandes vorbei, wo man buntes Treiben beobachten konnte. Doch irgendwo zwischen Festland und dieser Insel war es wesentlich ruhiger, dort war ein alter Mann im Wattenmeer unterwegs. Er lief bedächtig, immer weiter weg vom Ufer. An diesem heißen Tag trug er nur eine dunkle Badehose und ein weißes T-Shirt Am Horizont waren mittlerweile größere Wolken zu erkennen, und immer noch konnte man Silbermöwen im leichten Abendwind schreien hören. Der Alte schaute in die Ferne. Bald würde er sein Ziel erreicht haben. Doch was war dort? War da nicht eine kleine Gestalt zu erkennen? Jemand so weit draußen im Watt? Vielleicht sogar ein Kind?

Die Schritte des Alten wurden schneller, manchmal sackte er dadurch ganz schön tief ein. Seine lauten Rufe verhallten jedoch, ohne, dass er Antwort bekam. Nur die Möwen reagierten, indem sie schreiend davonflogen. Die Gestalt dort trug einen Eimer, das erkannte er jetzt, nachdem er ziemlich nahe herangekommen war, also war es bestimmt ein Kind. „Hallo, hallo“ kam zurück. Der Alte atmete auf und winkte. „Komm her, schnell, bitte!“ Nun kam es ihm entgegen, das Kind. Der Junge stand vor ihm. Blond, etwa dreizehn Jahre jung. Für einen Moment war alles ganz still; niemand wusste so recht, was er reden sollte. Beide schauten zur tief stehenden Sonne, bis der Alte das Schweigen unterbrach. „Was suchst du denn hier alleine im Watt?“ „Dat siehste doch, Muscheln!“ Er hatte schöne Herzmuscheln in seinem Eimer und war stolz auf seinen Fund von verschiedenen Schneckenarten. „Und wo sind deine Eltern?“ „Ach, meine Mutter, die pennt. „Und dein Vater?“ „Hab ik keenen. Er starb vor n‘ paar Jahr’n.“ Wie er das so lässig hersagte, dachte der Alte. Vor zwei Jahren, ja da starb auch sein Enkel. Hier im Watt „Aber trotzdem würde ich nicht so alleine weglaufen.“ „Aber jetzt bist du ja da, da kann mir nix mehr passier’n. „Woher weißt du denn das?“ „Ik vertrau‘ dir eben. Vielleicht, weil du so alt bist, da kennste dik bestimt hier oos.“ „Und du, kennst du dich denn hier aus?“ „Na ja, so’n bisschen. Wohne erst zwee Jahre hier. Bin hierherjezogen, als meen Papa starb. „Ach, dann bist du gar kein Urlauber?“ „Nee, ik komm von drüben.“ „Das habe ich schon an deinem Tonfall gemerkt. Komm, lasst uns zurückgehen. Der Junge schaute den Alten an, der mit einem mal Tränen in den Augen hatte. „Warum weinst du“ fragt er ihn. „Ach, ich denk gerade an was. Ich hatte einen Enkel, ungefähr so groß wie du. Heute vor zwei Jahren hatte er Geburtstag. Es war genau so heiß wie heute.“ „Und?“ Der Mann schaute zum Himmel; dann zum Jungen. „Übrigens, ich heiße Lars.“ „Und?“ „Ach so. Mein Enkel hieß Kai. Er war mit Freunden im Wattenmeer so wie du. Er war nicht alleine. Trotzdem kam er nie wieder. „War er tot?“ „Er wurde jedenfalls nie gefunden. Sein Geburtstag war ja auch sein letzter Tag hier im Watt. „Darf ich jetzt mit dir gehen?“ „Das tust du doch schon. Wenn du mir mal nebenbei deinen Namen verrätst.“ „Lennart.“ Der Alte schwieg. Neben ihm kniete jemand, der genau so traurig sein müsste wie er. Sicher war er hierhergezogen, um Altes zu vergessen und hier ein neues Leben anzufangen.

Der Mann lenkte ab. „Hattest du wenigstens schöne Geburtstage bisher gehabt?“ fragte Lars seinen neuen Freund. „Nee, meestens wurd nicht jefeiert, weil wir eben keene Moneten hatten. Nur eenmal, da war wat los, sach ik dir.“ „Wieso?“ Lars schaute den Kleinen erfreut an. „Weeßte, meen Jeburtstach is de neunte November. Ik wohnte in Berlin un sollte janz lang oofbleeben, die ham was jesacht von ‚ner Mauer. Wat soll’n wir zu so ‚nem grauen Ding jeh’n, hav ik mir so jedacht. Also sin wir hinjeloofen. En Jeschrei, sach ik dir. ‚Ne Riesenmasse Leute, alle unterwegs zu der einen Mauer. Ma hat mir jesacht, det war meen scheenster Jeburtstach.“ „Mensch, du sprichst ja ganz schön Berlinerisch !“ „Ja, aber nicht mehr so gut wie früher, ik wohn ja nicht mehr da!“ Der Alte war still. Eben hatte er eine Menge erfahren, fast einen Lebenslauf. Sie stapften und stapften, waren mindestens eine halbe Stunde lang unterwegs und konnten dann auch schon das Ufer im Licht der untergehenden Sonne erkennen, als sie bemerkten dass die Priele vor ihnen immer breiter wurden. Die Priele vereinigten sich zu einer großen Wasserfläche, auf der nur hier und da noch langgezogene Sandbänke hervorragten. Bald würde man kein Watt mehr erahnen und nur noch Wasser sehen.

Endlich erreichten sie das Ufer. „So, komm, wir spülen den Schlick ab und dann ab nach Hause, du willst doch sicher zu deiner Mutter.“ „Die schläft fast immer. Die trinkt zuviel und kümmert sich eh‘ nicht um mik.“ Armer Bursche, dachte Lars. Wieder ein Mosaikteil seines scheinbar trüben Lebenslaufs erfahren. „Und seit wann trinkt sie?“ „Sie arbeitete als Verkäuferin, drüben noch. Als die Mauer dann oof war, sin ne Masse fortjeloofen, war’n unterwegs in ’n‚ Westen. Wollten neu anfangen, womit weeß ik net, Arbeit, dat große Jeld machen? Da ham se die Bude dichtjemacht. Un dann stand se da, da hat se jesacht, ooswandern können wir ooch. Jehofft hat se, jeträumt vom schönen Westen.

Zu Hause war seine Mutter im Wohnzimmer und ließ sich vom Fernseher berieseln. Auf dem Tisch stand eine leere Weinflasche, daneben außerdem noch ein Schnapsglas. „Hi“ grüßte Lennart, als er zur Tür herein schaute, kurz stehen blieb und seiner Mutter in die Augen schaute. Er dachte an das, was Lars sagte: deine Mutter liebt dich. Aber er spürte es nicht. Es kam keine Reaktion von ihr. Nicht einmal ein „Hi“ zurück Somit entschied er sich, in sein Zimmer zu gehen. Seine Beine waren müde von der anstrengenden Wattwanderung. Er fasste den Entschluss, in sein Bett zu gehen. Morgen früh würde er wieder zu Lars gehen!

Es war Sonntag. Lennart zog die Vorhänge seines Zimmers zurück und blickte andächtig hinaus. Einige Minuten später machte er sich ganz leise aus dem Staub, Er wollte, ja, er musste wieder zu Lars . Der Strand war menschenleer. Na ja, Lennart würde es öfter versuchen. Fortgehen, wieder kommen – heute und morgen so wie das Wasser hier mit seinen Gezeiten auch ständig unterwegs ist.

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Tina Lenz