Urbane Tagträume

Die Sonne brennt durch das heruntergelassene Dach des Spiders, der Wind tobt durch den Innenraum. Nichts zwischen sich und dem Himmel zu haben erfüllt ihn mit Hochgefühl, er spürt es. Es ist unaufhaltsam. Freiheit. Es pfeift und tost so laut, Windschott hin oder her. Wenn er lange Haare gehabt hatte, wären sie ihm im Gesicht hin und her geweht. Er meint fast ihren Geschmack im Mund zu schmecken. Aber nichts. Der Motor brüllt ihn an, 10 Zylinder entfesseln eine Symphonie, die ihres gleichen sucht. Vor ihm nur ein Asphaltgrauer Strich soweit das Auge reicht. Er tritt beherzt noch mal auf das Gaspedal, der Motor heult auf. Der Wagen wird merklich schneller aber die Unendlichkeit des Asphaltbandes zeigt sich unbeeindruckt und zeigt nur noch mehr Weite. Es ist schon fast ein wenig beklemmend. Nichts was er tut, kann an der vermeidlichen Unendlichkeit des Weges etwas ändern.

Dann nur eine Fingerbewegung am Lenkrad und der nächste Gang ist drin. Er wird tief in den Sitz gepresst. Der Motor brüllt gegen den tosenden Wind an. Es ist nicht klar wer gewinnt, die atemberaubende Maschine oder die Naturgewalt des Windes. Unentschieden! Vor ihm taucht etwas auf. Ein nicht natürliches Gebilde in der Frontscheibe. Zuerst ist nur eine Spitze erkennbar und es wird langsam, aber sicher, größer. Aber er ist noch zu weit weg um es zu erkennen. Er reißt die Arme hoch, spürt den Wind am ganzen Körper, der Motor faucht, der Wind ist etwas leiser geworden. Gerade genug um den Motor des Lamborghini Gallardo Spider zu hören. Sein Körper prickelt überall wie Champagner. Jetzt wird es klarer das sind die Pyramiden von Gizeh und auf der anderen Seite … der Grand Canyon. Häh? Etwas Nasskaltes trifft seinen Nacken. Er schüttelt sich senkt den Kopf nach rechts, das Cockpit verschwimmt, erst die Sonne und dann ist der Rest auch weg. Kein Motoren- oder Windgeräusch mehr. Nur unverständliches Geraune, etwas quietscht unter ihm und er wird durchgeschüttelt. Etwas rattert, es ist stetig nur die Abstände zwischen dem „tarattatatt“ verändern sich. Er schaut auf. Nur ein Traum! Leider. Ernüchterung. Er findet sich dort wieder, wo er nicht so gerne ist und würde gerne zurück an das Steuer seines Traumwagens. Wunschtraum. Es dämmert ganz hinten in seinem Kopf, er war heute früh aufgestanden hatte sich fertig gemacht und war zur Bahn gelaufen. Es ist scheußliches Wetter, obwohl die Bahn noch überirdisch fährt ist die Deckenbeleuchtung an. Das einzig farbenfrohe sind die Kunstlederbezüge der U-Bahn Sitze. Dieses schwarz-grau-blau-rot gepunktete Design ist nicht sehr beruhigend, aber für Graffiti Anhänger erschwert es die Möglichkeit sich dort zu verewigen. Der Rest ist grau gehalten, mit einer Ausnahme. Die Stangen zum Festhalten neben und über ihm sind knallgelb. Das dient wahrscheinlich der Sicherheit, aber für ihn bedeutete es Stress. Das Gelb tut seinen Augen weh. Nicht zu ändern! Er sitzt auf dem ersten Platz einer längs stehenden Sitzreihe. Er mag diesen Platz. Dort kann sich niemand links neben ihn setzen. Er mag diesen Platz auch weil man sich an der Wand neben ihm anlehnen kann. Es spricht zwar grundlegend nichts dagegen sich bei einem anderen Fahrgast anzulehnen. Das könnte aber falsch verstanden werden und viele reagieren darauf nicht sehr … verständnisvoll. Etwas Intimsphäre ist ihm sehr wichtig, auch in einem öffentlichen Bereich wie einer U-Bahn. Man kann mit der Bahn zwar enorme Strecken in kurzer Zeit zurücklegen, aber bequem und individuell ist anders. Die Geräuschkulisse ist bedrückend. dort wird geschnaubt, dort gehustet. Das Pärchen neben ihm bespricht den gemeinsamen Nachmittagsverlauf. Ihm gegenüber hat jemand Stöpsel im Ohr und hört Musik, er kann etwas von der Musik hören, versteht aber nicht welches Lied es ist. Neben dem Musikfan sitzt ein typischer Anzugträger und liest die „Financial Times“. „Ob der Mann wohl was mit der letzten Immobilien Kriese zu tun hatte?“ Er erkennt die Zeitung sofort, weil das Papier dieser Zeitung nicht weiß ist, sondern dunkler. Der Typ an der Tür links von ihm telefoniert. Es scheint wichtig zu sein, der Mann verliert langsam die Geduld, durch die vielen Nebengeräusche kann er nicht verstehen worum es geht. Die Bahn taucht unaufhaltsam in die Tiefen des Erdreiches ein. Der Blick aus dem Fenster verändert sich zuerst in der rechten unteren Ecke und dann unaufhörlich füllt sich das Blickfeld mit dunklem schwarz. Jetzt verdient sie den Namen Untergrundbahn wieder. Der Blick raus zeigt nur die schwarzen Tunnelwände, an denen viele Kabel untereinander verlaufen. Er starrt direkt vor sich auf den Boden, da ist ein Fleck. Irgendetwas Organisches muss da ausgelaufen sein. Eigentlich möchte er nicht weiter darüber nachdenken. Aber was soll man sonst machen. Die Bahn wird langsamer. Eine Art Gong ertönt. „nächste Station Senefelder Platz. Übergang zum Metro Bus. Ausstieg links“ Die Bahn hält, die Türen öffnen sich. Kein Fahrgast steigt aus, keiner ein. Stagnation, Verharren in Langeweile. Nach kurzer Zeit ertönt die Bandansage „zurückbleiben Bitte“ in dem Abteil ertönt wie üblich eine 3-fache Sirene und eine Lampe über den Türen blinkt im gleichen Takt gelb auf. Man hört wie der Elektromotor seine Arbeit verrichtet, umso schneller die Bahn wird, desto deutlicher ist er zu hören. Es ist ein unterschwelliges Geräusch, er hatte sich bereits daran gewöhnt und nahm es heute aus unerfindlichen Gründen zum ersten Mal seit Jahren wieder wahr. Es beindruckte ihn nicht besonders, der Sound des Lamborghinis meldete sich als Referenz zurück. Schwere Entscheidung. Er vergleicht spaßeshalber all Vor- und Nachteile der beiden Verkehrsmittel mit einander und versucht eine Testvergleich, ähnlich wie beim ADAC entstehen zu lassen. Es dauerte eine Weile. Fazit: „Ich glaube nach reichlicher Überlegung … hat wohl … das Auto gewonnen. Wer hätte das gedacht, individueller Luxus gewinnt gegen Massentaugliches öffentliches Nahverkehrsmittel in Belangen Fahrkomfort bzw. Fahrvergnügen. Ein Punkt Abzug beim Auto wegen dem Umweltaspekt, 2 Punkte Abzug bei der Bahn wegen fehlender Individualität und Reisekomfort. Panik erfasste ihn wie ein Tsunami. Wo bin ich jetzt? Er war in Gedanken versunken gewesen und hatte keine Idee wie lange. Sein Herz schlug schneller. Sein Magen zog sich zusammen. Er war nervös, wenn er schon wieder zu spät zur Arbeit kam, gäbe es viel Ärger und Schwierigkeiten. Das Herz schlug im Hals und ein Pochen an seiner linken Schläfe meldet sich. Fetzen aus seinen Gedanken wurden zu Bildern, sein wütender Chef, eine schriftliche Kündigung. Die enttäuschten grünen Augen seiner Frau. „bitte nicht“ flehte er stumm gen Himmel, eher in Richtung des Himmels, wegen der unterirdischen Fortbewegungsart. Hektisch griff er sich mit der rechten Hand an das linke Handgelenk und zog seinen Jackenärmel zurück. 07:13, es beruhigte ein wenig er hätte noch Zeit. Da ertönt der Gong, seine Nackenhaare stellen sich auf, wie ein sprungbereiter Tiger sitzt er da. „nächste Station“. Die Pause, die das Band vor der Nennung der Station machte, dauerte eigentlich nur einen Moment. Diesmal, erschien sie ihm unendlich. „Stadtmitte, Übergang zur U-Bahnlinie 6 und zum Metro Bus. Ausstieg links. Bitte achten Sie auf die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante“ Er schließt kurz die Augen atmet deutlich hörbar aus. Die Anspannung beginnt aus ihm zu entweichen. „Alles klar! genau meine Station“ denkt er sich. Er lächelt. Ein Mann mit Brille sitzt vor ihm. Dieser schaut ihn, über seine aufgeschlagene Zeitung hinweg, verächtlich an. „Nicht ärgern ignorier den Klappspaten“ beschließt er und der Mann widmet sich wieder seiner Zeitung. Die U-Bahn wird merklich langsamer. Fast wie automatisch, steht er auf und stellt sich breitbeinig vor die Tür. Das Schwarz des Tunnels verschwindet an dem Fenster ziehen die wartenden Passagiere, Wartebanken und mehrere Bahnhofsschilder vorbei. Die Bahn kommt zum Stehen und er bestätigt den Knopf zur Türöffnung. Die Hydraulik arbeitet und macht den Weg nach draußen frei, wartende Passagiere stellen sich ihm in den Weg. Keiner will nachgeben und das blockiert alle. Erst aussteigen lassen, dann einsteigen ist ein wohl überlegtes und logisches Prinzip. Heute scheinen die Leute aber nicht vernünftig werden zu wollen. Mit etwas Kraftaufwand drängelt er sich durch die Menge und erntet wütend Kommentare von allen Seiten. Er ignoriert sie alle und ist irgendwann frei. Der Weg ist leer und zur Arbeit ist es nicht mehr weit. Alles wird gut. Wenn er heute Nachmittag, nach getaner Arbeit, zurückfährt wird das ganze wieder von vorne losgehen, aber daran denkt er jetzt noch nicht. „Vielleicht kann ich einen Lamborghini als Dienstwagen haben?“ Da muss er selber lachen.

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Ulf Thiemann