Auf der Suche

Die Zeit war gegangen.
Einfach so!
Von einer Sekunde auf die nächste war sie verschwunden.
Gerade noch war sie da und plötzlich war sie weg.
Wohin?
Das wusste niemand.
Ob sie wiederkommen würde.
Unwahrscheinlich.
Sicher die Zeit war ständig unterwegs. Nie kam sie zum Stillstand, ständig holte sie uns ein, war dauernd schneller als wir, aber diesmal, diesmal war sie gänzlich weg und ich habe sie nicht vorbeiziehen sehen.
Und deswegen bin ich losgezogen, um die Zeit zu suchen. Niemand kann einfach so verschwinden, selbst sie nicht. Also werde ich sie finden und zurück bringen, zurück zu mir und ihn. Die Zeit konnte uns nicht einfach im Stich lassen, nicht jetzt, wo er hier vor mir lag, schwach und hilflos.

Zuerst suchte ich sie dort, wo man angeblich am meisten Zeit verlor: am Computer und zwar im weltbekannten Internet. Ich durchforstete die unterschiedlichsten Ecken des World Wide Webs und fand vieles Sinnvolles und noch viel mehr Sinnloses, aber Zeit, Zeit fand ich dort nicht. Ich entdeckte allerdings einen Hinweis, der mich zu meinem nächsten Ziel inspirierte. Eine Werbung mit dem verheißungsvollen Slogan „Zeit kaufen.“ führte mich direkt zum nächstgrößeren Uhrengeschäft. Über 100 Uhren tickten im Gleichklang.
Kleine Silberne.
Große Goldene
Digital oder analog.
Uhren in den verschiedensten Formen und Farben, es gab alles, was man sich im Bezug auf Uhren wünschen konnte, doch Zeit, Zeit fand ich dort nicht.
Und eigentlich waren da meine Ideen schon ausgeschöpft. Ich wollte die Zeit zurückholen, aber wenn ich nicht wusste, wo sie war, dann stand ich vor einer unmöglichen Aufgabe. Ich schlenderte durch die Stadt und schaute in ein paar Läden hinein. Ab und zu wandte ich mich immer mit der gleichen Frage an einige Passanten: „Haben sie etwas Zeit?“
Doch die Antwort veränderte sich ebenso wenig wie die Frage. Anscheinend hatte ich also nicht als einzige meine Zeit verloren. Einige schüttelten sogar so panisch den Kopf, als würden sie fürchten, ich wollte ihnen ihre Zeit stehlen. Irgendwann traf ich auf einen alten Mann. Sein Rücken war gebückt und er lief sehr, sehr langsam. Er sah aus wie jemand, der sehr viel Zeit gehabt hatte, nicht wie meinem Freund und mir, dem sie doch davongerannt war. Tatsächlich hatte er einen Tipp für mich. „Machen sie mal einen Spaziergang durch den Wald.“ Zugegeben, ich verstand den Ratschlag nicht, aber ich war der Meinung, ich hatte nichts zu verlieren und vielleicht unterschätzte ich die Weisheit des Greises, vielleicht würde ich im Wald die Zeit finden.
Im Wald zwischen Tannen und Fichten, zwischen Ahorn und Kastanie war es vollkommen ruhig. Tief sog ich die frische Luft ein. Für einen Moment hatte ich das Gefühl die Zeit bliebe stehen, aber ein Blick auf die Uhr, die ich mir am Morgen in diesem Geschäft gekauft hatte, verriet mir, dass mein Gefühl mich belog. So ein Verräter!
Zwar fühlte ich mich während meines kleinen Spazierganges weniger gestresster, hatte sogar das Gefühl, die Zeit verging langsamer, aber das war ja nicht, was ich wollte. Letztendlich hatte ich also gar nichts gewonnen. Ich hielt enttäuscht inne und sah mich um. Wohin jetzt?
Ich wusste es nicht.
Schließlich kehrte ich erschöpft von meiner erfolglosen Suche in die Stadt zurück. Ich schwankte. Eigentlich war ich müde und wollte nach Hause. Doch mit etwas guten Willen und etwas mehr Kaffee fuhr ich damit fort, die Leute nach der Zeit zu fragen. Denn nur wer suchet, der findet. . .

„Tut mir Leid, ich kann Ihnen nicht helfen.“, antwortete die junge Frau mir und wandte sich von mir ab. Doch das kleine, blonde Mädchen an ihrer Hand ließ sich nicht weiter in die vorgegeben Richtung zerren. Sie stand einfach nur da und lachte mich an. Ihre Mutter und ich blickten sie verwundert an. „Du kannst die Zeit nicht zurückholen. Das geht nicht.“
Ich hatte ja auch nicht gesagt, dass ich das wollte, nur gedacht. Normalerweise gab ich nicht so viel auf die Meinung von 7-jährigen, aber sie war mein letzter kleiner Strohhalm.
„Aber sie ist mir weggelaufen.“
Das Kind schüttelte energisch den Kopf. „Lügnerin! Du bist vor ihr weggelaufen. Die Zeit ist kein Auto. Sie hat keine Bremse und kein Gaspedal“
„Das bin ich nicht.“
„Bist du doch!
„Bin ich . . .“
Die Mutter räusperte sich. Beschämt senkte ich meinen Kopf. Eine Träne trat in mein Auge. „Aber ich brauche für uns etwas mehr Zeit und sie läuft viel zu schnell. Gestern war es noch ein Jahr und heute sind es nur noch drei Wochen.“, wisperte ich betrübt. Eine kleine Hand näherte sich mitleidig meiner, doch in dem Moment zog die Mutter ihr Kind weiter und ließ mich allein zurück. Verständlich. Sie dachte wohl, ich wäre verrückt. Dabei war ich nicht verrückt, nur verzweifelt. Obwohl das eine manchmal wohl sehr nah am anderen lag. Da blieb ihre Tochter noch einmal stehen. Der Wind fuhr durch ihr Haar und auf diesem Wind ritten ihre Worte: „Zeit kannst du nicht stehlen, zurückdrehen, oder verlangsamen. Zeit musst du dir nehmen.“
Den Rest der Woche nahm ich mir frei, nahm mir Zeit für meinen todkranken Freund.

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Alexandra Kasano