Ein bisschen Freiheit
„Wohin sind wir eigentlich gerade unterwegs?“
Sie sprach spontan, aus dem Nichts heraus. Ihr Mund war ganz nah an meinem Ohr und ich konnte ihren Atem spüren. Meine Mundwinkel zuckten leicht, ich hatte selber keine Ahnung:
„Frankreich? Holland? China? Was macht das für einen Unterschied?“
Ich beobachtete weiter die vereinzelten Wolken, die hoch über uns vorüberzogen, während unter uns und dem Güterzug, auf dem wir lagen, das Gleisbett dahinratterte.
Sie nahm meine Hand und schlang ihre Finder in meine, jetzt flüsterte sie, was ich über das Geräusch des Zuges hinweg kaum verstehen konnte:
„Ich habe das Gefühl, wir sind schon viel länger unterwegs als nur zwei Tage. Mein stressiger Alltag liegt irgendwo hinter dem Horizont und wir entfernen uns jede Sekunde weiter von ihm.Ich fühle mich frei!“
Sie schmiegte sich noch ein wenig enger an mich und ich dachte darüber nach, was sie gesagt hatte. Ich fühlte mich auch frei, wie wir da lagen, dem Ungewissen entgegenrauschend, nur mit einer dünnen Decke vom metellenen, rostigen Boden des leeren Güterwaggons getrennt. Mir wurde bewusst, dass ich mich eigentlich noch nie so grenzenlos frei gefühlt hatte wie in genau diesem Augenblick.
Ich löste mich meine Blicke von den weißen, wattigen Flecken im Himmel und wendete meinen Kopf langsam zur Seite. Die beiden geschlossenen Augen, die sich daraufhin öffneten, um mir einen fragenden Blick entgegen zu werfen, faszienierten mich und machten es mir für einen Moment unmöglich, meinen Blick von ihnen abzuwenden.
Ich küsste zärtlich ihren Mund und die Augen schlossen sich wieder. Eine Weile blieben wir liegen, dann wurde der Zug langsamer.
Ich rutschte zum Rand des Waggons und setzte mich hin, um zu sehen, wieso wir langsamer wurden und ob ich erkennen könnte, wo wir uns befanden, aber ich sah nur ein paar hochbewachsene Maisfelder, vereinzelte Bäume und eine schmale Straße, die sich irgendwo zwischen den Feldern, den Bäumen und dem Horizont verlor. Ein älterer Herr mit Hut radelte gemächlich gen Ferne.
Der Zug legte wieder an Tempo zu, ich blickte mich um und sah, wie mein Gitarrenkoffer geöffnet wurde, was jetzt kommen würde, wusste ich genau: „Ich spiele du singst?!?“
Der Zug war zwar eindeutig nicht der beste Ort, aber ich wusste, ich konnte ihr nicht widersprechen. Ohne meine Antwort abzuwarten, strich sie die ersten Saiten sanft an.
Ich begann zu singen, erst leise, dann immer lauter, der Lärm des Zuges verschluckte meine Stimme fast gänzlich, also sang ich, so laut ich konnte und brüllte meine Gefühle mit Inbrunst in die menschenleere Landschaft.
Frei sein
Hab‘ ich noch nie erlebt.
Ich stell mir vor,
Dass man über allem schwebt,
Ohne Sorgen und Gedanken,
Ohne Grenzen, ohne Schranken,
Dass man die Welt aus den Angeln hebt
Bin ich frei?
Kann ich frei sein?
Ob dem so sei,
Ich schätze „nein“.
Doch jetzt versteh‘ ich.
Freiheit ist nicht groß,
Manchmal ist sie klein.
Man muss bloß
Ein bisschen frei sein!
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Leonardo Peralta