Unterwegs zu Oma

Warum hatte er diese blöden Englischaufgaben nicht gleich gemacht? Mutters Blick, als sie ihn am Computer erwischt hatte statt am Tschäpter feif, hatte Bände gesprochen. Was hätte es genützt ihr zu sagen, dass er die Vokabeln nicht lernen konnte? Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass bikamm so etwas anderes bedeutete als es klang. Und es nützte auch nichts, wenn er es vor sich hinsprach. Auch das ti äitsch wehrte sich mit aller Macht. „Üb“, sagte Mutter. Dabei wurde es dadurch nur schlimmer.
„Bikamm“, flüsterte Thomas, „bikamm, bikamm, bikamm, bikamm.“
„Ssss“, wisperte er. Zungenspitze an Schneidezähne und einen Hauch Luft hindurchschicken. „Tssss… Dässsshh…“ Wenn er die Zunge zu fest andrückte, war es „däd“. „Däd“, flüsterte Thomas, „däd … däd … däd…“

Vater war wieder weg. Er hatte alle Türen aufgerissen und nach ihm gerufen. Hinter das Sofa hatte er nicht geguckt. Seine Schritte im Haus.
Vater bekam wenig mit. Er kam nach Hause, wenn die Kinder mit geputzten Zähnen im Bett lagen. Dann verteilte er kühle Stirnküsse, die nach Zigaretten rochen. Das Signal, dass das Licht ausgemacht wurde.
„Üb gefälligst“, wisperte Thomas. „Bikamm bikamm bikamm … .“
Von Ferne konnte man das Motorengeräusch hören. Es klang ruhig und gleichmäßig. Sie konnten nicht weggefahren sein ohne ihn. Aber sie waren böse auf ihn. Warum war er weggelaufen?
Alles war so anders gewesen. Warum war Vater schon um fünf nach Hause gekommen? Warum hieß es, sie wollten zu Oma, wo sie doch sonst nur sonntags zu Oma fuhren, nach dem Mittagessen? Warum hatte Mutter das Garagentor nicht geöffnet? Es war stockdunkel mittlerweile. Schien es ihm so, oder entfernte sich das Motorengeräusch allmählich?
Das Klingeln riss ihn aus den Gedanken. Er musste die Augen geschlossen haben, denn jetzt war es hell. Thomas krabbelte hinter dem Sofa hervor.
Frau Gutzeit war es, die Nachbarin. „Guten Morgen, Thomas“, sagte sie. „Wie kommt es, dass du heute zu Hause bist?“
Thomas fuhr sich durch die Haare.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Frau Gutzeit.
„Nein“, sagte Thomas.
„Gehörst du dann nicht eigentlich ins Bett?“
Thomas guckte auf den Türknauf. Frau Gutzeit guckte an ihm vorbei.
„Ist deine Mutter im Bad?“
Thomas hielt den Türknauf fest in der Hand.
„Sag ihr, ich rufe gleich mal an“, meinte Frau Gutzeit. Sie ging.
Thomas schloss die Tür und ging bis zum Ende des Flurs. Alles war still.
Er horchte mit dem Ohr an der Garagentür.
Dann ging er wieder zur Haustür. Eine Weile überlegte er, ob er sie öffnen sollte, um zu gucken, ob die Garage jetzt offen stand. Aber dann hätte Frau Gutzeit ihn von ihrem Küchenfenster aus sehen können. Also ging er lieber auf sein Zimmer und nahm sich das Englischbuch vor. „Tssse hoil fämili is sitting in ssse kar“, las er. „Wer is ssse Picknickbaskit, säs däd. Hi is ängri.”
Mutters Blick, weil er beim Ausscheidungsrennen am Computer saß und nicht am Tschäpter feif. „Mam is ängri“, sagte Thomas. “Däd is ängri. Wer is ssse Picknickbaskit?” Vaters Blick, als er nach Hause gekommen war.
Die Blicke von Robert und Dennis, die auf ihren Sitzen fest angeschnallt saßen. Mutter hatte sich nicht gerührt. Thomas war einfach über Dennis weggeklettert, hatte die Autotür aufgerissen und war ins Haus gelaufen.
„Thomas!“, hatte Vater über das Motorengeräusch gebrüllt. Mutters Kopf auf ihrer Schulter. Vaters Schritte hinter ihm.
Das Telefon. Einmal, zweimal, viele Male. Thomas ging die Treppe runter. Er wartete, bis es klingelte. Dann riss er die Tür auf.
„Thomas, wo ist deine Mutter?“, fragte Frau Gutzeit.
Thomas stand mit dem Rücken zur Tür. Der Weg war frei.
„Sie sind in der Garage“, sagte er. „Alle vier. Sie wollten zu Oma fahren“
Er blieb an die offene Tür gelehnt stehen, als Frau Gutzeit die Garagentür aufriss und der bleierne Rauch langsam den Flur entlang kroch.

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Regina Schleheck

  • Uhhh, wieder so ein Magenkrampfer. Zieht wie „Hüpfekästchen“. Ät först it was so fanni, but zen zum Ende hin wird es bitter.