Es war ein Morgen wie jeder andere. Wie immer stand sie sehr früh auf, mit dieser nicht zu bändigenden Vorfreude auf den Tag. Sie ließ sich die Zeit, die ihr sonst immer zu entgleiten drohte. Oder in die sie sich zwang. Es war ihre stille Stunde, die sie für sich ganz allein hatte.
Sie genoss das lauwarme Wasser der Dusche, ließ es langsam an ihrem noch nachtwarmen Körper hinunterlaufen und folgte den einzelnen Tropfen, die sich spitzbübisch über ihren Körper verströmten. Haut und Haar ließ sie an der Luft trocknen, sie legte ein leichtes Make-up auf und lebte sich langsam am offenen Fenster in den neuen Tag. Der erste Kaffee duftete genauso verführerisch wie ihr frisch geduschter Körper. Einen Moment lang blitzte in ihr der Gedanke auf, einfach mal auszubrechen aus ihrer Routine.
Doch wie jeden Morgen schmierte sie die Butterbrote für die Familie, legte das Obst dazu und eine kleine winzige Süßigkeit für jeden, weckte nacheinander ihre müden Krieger und scheuchte sie mit einer Engelsgeduld aus dem Haus.
Erst dann packte sie ihre Sachen zusammen für den langen Arbeitstag, der vor ihr lag. Als sie wenig später vor dem großen grauen Büroklotz aus ihrem Auto stieg, beschlich sie dieses leise Gefühl der Unvernunft.
Warum nicht einfach mal blau machen? Hier und jetzt und heute? Ohne sich rechtfertigen zu müssen, was sie mit den geklauten Stunden anzufangen gedachte.
Sie lehnte sich an die Fahrertür, steckte sich eine Zigarette an und blies Kringel in die Luft.
Und in diesen fünf Minuten fiel die Entscheidung des Nichtfunktionierens. Sie rief ihre Kollegin an und teilte ihr mit, dass sie eine böse Migräne leider nicht arbeitsfähig sein ließ.
Dann stieg sie wieder in ihr Auto und fuhr zum großen Fluss.
Einatmen, ausatmen.
War das wirklich sie?
Einfach der Pflichterfüllung die rote Karte zeigen und sich davon zu stehlen?
Langsam ging sie den kleinen ausgetretenen Weg entlang zu der kleinen Bucht, die sie ihr Eigen nannte. Sie war immer schon der Meinung gewesen, dass dieser kleine Sandstrand nur für sie erschaffen worden war. Und wie erwartet war auch niemand dort, der ihre Ruhe hätte stören können. Sie packte ihr Frühstück aus und ihr Buch, legte sich auf die Decke, die sie immer im Auto spazieren fuhr, ohne sie jemals benutzt zu haben.
Sie zählte die Wolken.
Und als keine Wolken mehr kamen, setzte sie sich auf und zählte die Schiffe, die sich langsam flussaufwärts schleppten. Zählen war für sie Meditation. Und noch nicht ganz bei zehn angekommen, bemerkte sie schon diese bleierne Müdigkeit, die sie seit Tagen mit sich führte. Sie war so leer, so ausgebrannt, so völlig erschöpft.
Sie überließ sich dem Schlaf.
Träumte sich weg aus ihrem Leben und hinauf auf einen der vorbeiziehenden Pötte auf großer Fahrt. Sie war Flussfrau, ganz einfach ging das, in der Traumwelt. Sie war Kapitän und Schiffsjunge zugleich. Dabei hatte sie noch nie in ihrem Leben auf einem Schiff gestanden, sie immer nur aus weiter Ferne beobachtet und ihre Gedanken mit ihnen auf die Reise geschickt. Auf die offene See.
Als sie wieder wach wurde, stand die Sonne schon ziemlich hoch. Sie räkelte sich wohlig, öffnete widerwillig ihre Augen und sah ihn in respektvollem Abstand auf ihrem Strand sitzen. Fast war sie geneigt, laut aufzulachen. Er trug einen eleganten Anzug, die Krawatte saß eng und korrekt. Und er war barfuß. Die Schuhe hatte er offensichtlich seiner Aktentasche hinterher geschmissen.
Als hätte er gemerkt, dass sie erwacht war, drehte er sich langsam zu ihr um und schaute ihr direkt in die Augen. Sofort begann er zu lächeln. Das ganze Gesicht strahlte, er schien zu leuchten. Bot sie so einen belustigenden Anblick? Sie schreckte hoch und ordnete ihre verrutschte Kleidung.
„Wie lange beobachten Sie mich schon?“ fragte sie ihn in diesem leicht vorwurfsvollen Ton.
„Oh, ich habe sie nicht beobachtet, sondern nur hier gesessen und mich vergewissert, dass niemand ihren Schlaf stört.“
Idiot! Hielt er sie für so naiv?
Sie zog es vor zu schweigen und Löcher in das Wasser zu starren.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Sie dachte nein und sagte ja.
Ungeachtet seines Aktenkoffers und seiner Schuhe kam er langsam auf sie zu und setze sich zaghaft zu ihr auf die Decke.
„Haben Sie sich einen Tag gestohlen?“ fragte er sie.
„Ja, mir war so nach Ausbrechen zumute.“
„Mir auch.“
„Und? Wie fühlt es sich an?“
Er schwieg. Schien die Antwort in sich hin und her zu schaukeln.
„Man meint, man hätte etwas Unrechtes getan, aber in Wirklichkeit hat man etwas für sich getan. Ist es nicht so?“ hakte sie nach.
„Ich bin jeden Tag hier. Wissen Sie, ich bin schon seit zwei Monaten arbeitslos, aber meine Familie weiß es nicht.“
Sie schluckte. Jeden Tag saß er hier? Allein? Darauf wartend, dass er wieder nach Hause gehen konnte?
„Aber warum? Warum sagen Sie Ihrer Familie denn nicht, dass Sie arbeitslos sind? Sie werden es doch sowieso merken. Irgendwann.“
„Ich hoffe, dass ich schnell wieder Arbeit finde. Und das Loch in der Kasse stopfe ich mit meinen geheimen Ersparnissen.“
Warum erzählt er ihr das alles? Sie war eine wildfremde Person. Oder lag es gerade daran? Tagelang auf den Fluss zu starren, ohne mit einem Menschen reden zu können…das machte vielleicht beliebig in der Gesprächigkeit.
Und sie suchte nach Worten, die passen könnten. Fand sie aber nicht.
„Ich möchte Sie nicht mit meinen Problemen belasten. Denn Sie haben sich offensichtlich nur diesen einen Tag der Freiheit gegönnt. Den sollten Sie anders verbringen.“
Sie schwiegen.
Irgendwie fühlte sich das so schon ganz okay für sie an. Sie hatte von diesem Tag nichts erwartet, außer ein paar Stunden für sich allein. Warum sollte sie die nicht teilen? Teilen mit einem Menschen, der zuviel von dem Allein hatte?
„Und was machen Sie morgen?“ wollte sie von ihm wissen.
Er lachte bitter auf.
„Na, was wohl? Wieder hier sitzen und warten.“
„Warten worauf?“
„Auf Sie?“
Wie konnte ein Mensch nur so lethargisch sein, dachte sie.
Und gleichzeitig wünschte sie sich nichts sehnlichster, als am nächsten Tag wieder hier neben diesem Mann im Anzug zu sitzen.
Sie erhob sich und ging. Nach ein paar Schritten, drehte sie sich noch einmal um und sah in sein trauriges Gesicht. „Behalten Sie die Decke, wir werden sie morgen wieder brauchen, wenn ich mit Ihnen die Stellenanzeigen der Tageszeitung durchgehe.“
Ein letztes Lächeln besiegelte ihren Geheimbund.