Fenstergeschichte
Wie der Wind, der sie sicher im hohen Norden erwarten würde, wirbelte sie gedankenverloren durch die Wohnung. Irgendwie war das immer wieder zwanghaft, dass sie darüber nachdachte, ob sie sich bei allen wichtigen Menschen ihres Umfeldes auch verabschiedet hatte. Und ob die Wohnung piccobello war, denn wenn sie dann in zwei Wochen wieder kam, dann wollte sie nicht direkt putzen müssen. Gab es so etwas wie einen Vorurlaubs-Putzzwang? Damit die Nachbarin, die in dieser Zeit die Wohnung versorgte auch ja nicht die Nase rümpfte?
Früher war das noch schlimmer. Da meinte sie auch noch alle Fenster putzen zu müssen, bevor es dann endlich los ging in die lang ersehnten Ferien.
Mit diesen Gedanken verweilte sie einen kurzen Moment am Fenster, als sie das junge Paar über die Straße gehen sah. Sie lachten und küssten und küssten und lachten. Die Hände gingen auf Reisen und die Schritte wurden immer langsamer. Mitten auf der Straße blieben die Beiden stehen und vergaßen die Welt. Ein langer, ein wundervoller Kuss muss es wohl gewesen sein, als die Autos in ein warnendes Hupkonzert verfielen.
Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und ließ die Haare im Wind flattern, lachte sich Richtung Himmel und nahm den Jungen auf ihre Arme und trug ihn über die Straße auf den rettenden Bürgersteig. Und dort setzten sie sich erst mal hin, um sich auszuschütten vor Lachen und sich wieder und wieder zu küssen.
Welch eine wunderbare Szene, dachte sie, und ein Lächeln überflutete ihr zuvor noch so ernstes Gesicht. Wie lange war das her, dass sie so jung und unbekümmert den Verkehr zum Erliegen brachte und einfach nur das tat, wonach ihr der Sinn stand? Küssen und lieben und lieben und küssen. Mitten in der Rush Hour auf einer Hauptverkehrsstraße. Wie lange war das überhaupt her, dass sie so frisch verliebt und unbekümmert alles um sich herum vergessen konnte?
Tage, an denen sie einfach blau machte, um mit ihrem Liebsten im Bett zu frühstücken.
Nächte, in denen der Schlaf so nebensächlich war wie eine Steuererklärung.
Es war zu lange her, als dass sie noch eine klare Erinnerung dazu hatte.
Ihr Blick suchte erneut das Paar auf der Straße.
Doch die zwei Verliebten waren längst weiter gezogen. Küssend, lachend, raufend.
Und plötzlich wusste sie, was sie mit ihren Vorurlaubsstunden anfangen würde.
Keinesfalls putzen.
Noch weniger über längst vergangene Liebschaften nachdenken.
Die Tür hinter sich zuziehen und dem Meer entgegen eilen.
Nackt im Regen tanzen und die Füße in Riesenpfützen wässern.
Wellen zählen und Himmel küssen.
Und neue Erinnerungen erleben.
Bild: eigenes
Songline
27. Mai 2011
„Neue Erinnerungen erleben“ – Ja, das ist es! Live und in Farbe 😀
Mumpitz
28. Mai 2011
Oh, dass vergessen wir so oft im Alltag! Ein küssendes Liebespaar ist der richtige Auslöser, einmal wieder ans Barfußgehen zu denken.
Gestutzt hab ich, weil sie ihn über die Straße trägt… feine Nuance, sowas mag ich!
aletheia
28. Mai 2011
Ob du es jetzt glaubst oder nicht: das ist eine wahre Geschichte. Ich habe immer schlechte Laune bevor ich in Urlaub fahre. Weil ich Kofferpacken hasse und mich unnötig unter Druck setze. Und als ich sah, wie dieses bildhübsche Mädel ihren Freund mal eben lachend über die Straße getragen hat…war die schlechte Laune aber mal sowas von weg. 🙂