Sie weiß es nicht
Nein, sie würde nicht wollen, dass ich ihren Namen nenne, weshalb ich das nicht tue. Ich kenne sie seit fast fünf Jahren. Damals ging sie durch die Hölle. Jetzt hört sich Hölle immer sehr krass an, jeder versteht etwas anderes darunter und keiner würde es vielleicht so nennen, der es nicht miterlebt hat. Ich erlebte sie mit. Hautnah. Mein Mann bat mich eines Abends:
»Fahr zu ihr, rede mit ihr, vielleicht ist es besser von Frau zu Frau.«
Ich kannte sie nicht, wusste nicht, wer sie war, wusste nicht, was sie wusste, erlebt und mitgemacht hatte. Wir trafen uns an einem Bahnhof, fuhren essen, gingen spazieren und näherten uns vorsichtig an. Ich spürte ihre Unsicherheit.
»Wenn ich meine Zuversicht verliere«, sagte sie, »verliere ich alles.«
Erpresst, beschattet, ausspioniert wurde sie. Allein, weil sie mit meinem Mann und meinem Bruder befreundet war. Ich hörte ihr zu, sie mir. Ich versuchte zögerlich ihr klarzumachen, dass es nicht aufhören wird, dass die immer da sein werden und nie aufgehört haben, uns zu erpressen, zu verfolgen, zu beschatten und dass sie, wenn sie sich nicht abwendet, in ständiger Gefahr schwebt. Man hatte ihr gedroht. Ich fühlte die Panik, die sie hatte. Mein Mann versuchte seins zu tun, sie zu beschützen. Mein Bruder blieb lange fern von ihr, auch wenn die Sehnsucht ihn fast auffraß. Eine Liebe und Freundschaft, die nicht sein durfte.
Als ich 2011 das erste Mal erkrankte, kam sie, trotz der Gefahren, zu mir in die Klinik. Ich saß draußen und hielt nach ihrem Wagen Ausschau. Wir brauchten eine Weile, bis wir uns vertrauen konnten, obwohl von Anfang an etwas Vertrautes zwischen uns war.
»Was quatscht ihr wieder solange?«, fragte mein Mann, als ich eins meiner täglichen Telefonate mit ihr führte.
»Brummelt er wieder?«, lachte sie, die ihn gehört hatte.
»Ja, er will noch weg, wir sollten langsam auflegen.«
Mit den Jahren wurden wir gute Freundinnen, heute ist sie mehr als eine Freundin, sie gehört zu meiner Familie, wird von meinen Söhnen respektiert und angesehen. Immer wenn ich sage:
»Ich habe dich nicht verdient«, sieht sie mich liebevoll an.
»Ich habe Angst, wenn du nicht mehr da bist«, sagte sie vor ein paar Tagen.
Eine Freundschaft, wie diese, ist selten geworden. Sie und ich haben um unsere Männer getrauert, die kurz nacheinander starben. Sie stand hinter mir, als ich die Trauerfeier organisierte, sie half mir, als ich am Boden war, wir weinten zusammen. Ich übergab ihr den Besitz meines Bruders und fühlte, wie er nickte. Ich selbst behielt nur wenig, das meiste teilte ich unter meinen Söhnen auf. Was brauche ich noch, außer ein paar Erinnerungsstücke? Ein bisschen von dem, woraus ich die Nähe meines Mannes ziehe, der so tief in mir ist, dass er zwar gestorben, aber nicht tot, für mich, ist.
Sie holte mich zu sich. Ich lebe jetzt ruhig und entspannt. Es wurde still, fast friedlich. Weihnachten und Silvester sind geschafft. Niemand mehr, der uns jetzt noch nach dem Leben trachtet. Warum auch? Ich bin die Letzte und werde 2015 nicht überleben.
»In mir ist noch so viel Neugier«, sagte ich heute, zu der wunderbarsten und ehrlichsten Person die ich kenne.
»Dann lass sie uns angehen«, lächelte sie, die nicht weiß, wie stark und groß sie ist.
Mumpitz
13. Jan 2015
Sie würde sagen: Es ist ein Segen, dich als Freundin zu haben.
Silvi
14. Jan 2015
Als ich sie fragte, sagte sie: „Ja, genauso ist es.“ Dabei ist es umgekehrt nicht anders 😀 LG Silvi