Das Starren in Bildern
„The Rolling Exhibition“ – Kevin Michael Connollys außergewöhnliche Reise
Er sieht phantastisch aus. Ein Bild von einem Mann. Schlank ist er, sein Gesicht mit markanten Zügen und mit Augen, in denen frau versinken könnte. Doch wer ihn ansieht, tut dies nicht wegen seines Aussehens, sondern weil er keine Beine hat. Wer ihn ansieht, blickt nicht in sein Gesicht. Sondern starrt dorthin, wo nicht ist, was dort sein sollte.
Kevin Michael Connolly hat dieses Starren festgehalten. Die ungläubigen, verschämten, neugierigen, entsetzten Blicke der Passanten, die auf ihn hinunterblicken, während er sich mit dem Skateboard über die Straßen dieser Welt bewegt. 31 Städte in 15 Ländern hat er bereist und 32.000 Fotos dabei geschossen.
Eine Auswahl der Bilder ist auf seiner Homepage zu sehen. Es lohnt sich, Zeit dafür zu investieren. Die Blicke der Menschen auf den Fotos zu deuten. Was empfinden sie? Wie gehen sie um mit diesem zu kurz geratenen Menschen, der dort rollend ihren Weg kreuzt? Was erzählt ihr Blick über sie selbst?
„Starren ist menschlich“, sagt Connolly. Er kennt es nicht anders. Schon von Geburt an hat er keine Beine. Und so nimmt er die Blicke der anderen hin als etwas Natürliches, als einen Reflex, als normale Reaktion auf einen Anblick, der nicht in das Schema passt, das um uns herum ist.
Die Menschen machen sich Gedanken, suchen nach einer Erklärung für Connollys Aussehen. In Neuseeland vermutet ein Junge einen Haiangriff, manche unterstellen einen Autounfall, wieder andere eine Kriegsverletzung aus dem Irak. Hinter jedem Starren entsteht eine andere Geschichte.
Die Bilder betrachtend, stellte sich mir die Frage: „Wie wäre mein Blick? Wie würde ich ihn ansehen, diesen gutaussehenden Kerl, der keine Beine hat? Würde ich es schaffen, in sein Gesicht zu sehen, freundlich, vielleicht ein wenig keck, oder bliebe auch mein Blick an dem Skateboard hängen, das dort ist, wo seine Beine fehlen? Ich weiß es nicht.
Die Fotos Connollys erzählen Geschichten. Ein wenig von seiner Geschichte und ein wenig von den Geschichten in den Köpfen der abgebildeten Menschen. Doch mehr als das halten sie dem Betrachter einen Spiegel vor. Er weiß: Er hätte ebenso gestarrt wie alle anderen. Und ein wenig schämt er sich dafür.
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Link: Interview mit K.M. Conolly
Link: The Rolling Exhibition
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