Kamila Shamsie: „Verglühte Schatten”
Es erstaunt mich immer wieder, welch spannende Literatur gerade auch außerhalb unseres westlichen Gesichtskreises geschrieben wird.
So ging und geht es mir mit der pakistanischen Autorin Kamila Shamsie, Jahrgang 1973, seitdem ich mehr oder minder zufällig auf deren Roman „Verbrannte Verse” stieß. Shamsie, aus Karatschi gebürtig und dortselbst und in London lebend, ist mittlerweile auch im Westen keine Unbekannte mehr. Ihre Romane „Verbrannte Verse”, „Salz und Safran”, „Kartographie” und „Verglühte Schatten” sind sämtlich auf Deutsch erschienen. Ich habe sie alle gelesen, zuletzt „Verglühte Schatten”, der auf der Shortlist des „Orange Prize for Fiction” stand und der meiner Meinung nach ihr bisheriges Meisterwerk unter ihren sämtlich meisterlich zu nennenden Romanen ist.
Shamsies Romane kreisen sämtlich um das Private, das politisch ist und das Politische, das das Private ist, insbesondere um die Auswirkungen politischer und sozialer Verwerfungen bis tief hinein in das Leben von Individuen und deren Familien. Pakistan, das Produkt jener unglückseligen Teilung des indischen Subkontinents nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft, belastet mit mächtigen Problemen von Beginn der Staatsgründung an, ein Land, das uns im Westen immer nur dann ins Auge fällt, wenn wieder einmal eine Katastrophe passiert ist, ist ihr Dreh-und Angelpunkt, uns ihre Geschichten über Menschen und Familien zu erzählen, die eigentlich auch nichts anderes wollen, als ihr Lebensglück zu finden.
In „Verglühte Schatten” weist Shamsie jedoch weit über Pakistan hinaus. Über einen Zeitraum von 56 Jahren, vom Abwurf der Atombombe über Nagasaki 1945 über die indisch-pakistanische Teilung 1947 bis hin zum afghanischen Krieg gegen die sowjetische Besatzung und Amerika im Schatten des 11. September erzählt „Verglühte Schatten” von den Familien der Tanaka-Ashrafs und der der Weiss-Burtons und deren Verstrickung untereinander und in die politischen Zeitläufe über drei Generationen hinweg.
Shamsie erzählt von Heimatverlust und von neuer Heimat, davon, dass Täter-Sein und Opfer-Sein zwei Seiten der gleichen Medaille sein können, erzählt von den vielen Grau-Zonen und Zwischentönen, in denen sich ein Menschenleben bewegen kann, stellt die Frage, ob es überhaupt eine „richtige” Seite gibt, auf die ein Individuum sich stellen kann.
Ihre Protagonistin Hiroko, eine, die schwer versehrt Nagasaki überlebt hat und doch im Feuersturm ihren deutschen Verlobten Konrad verlor, ist eine Wanderin zwischen der westlichen und östlichen Welt. Mit ihrem Mann Sajjad, einem indischen Muslim, der bei der Teilung seine indische Heimat verliert, und ihrem Sohn Reza hat sie sich für eine lange Weile in Karatschi, ihrer „neuen” Heimat, eingerichtet. Bis Reza in den afghanisch-sowjetischen Konflikt hineingezogen wird und aus diesem Ereignis folgenschwere Entscheidungen für die Zukunft gefällt werden.
Die andere Familienlinie im Roman, die Weiss-Burtons, sind Hirokos „Wahlverwandtschaften”: Ilse Weiss, geschiedene Burton, ist Konrads Halbschwester und lebt in New York. Sie hat einen Sohn Harry, der später als glühender Patriot beim CIA in Pakistan arbeitet, und ihre Enkelin Kim, die in den Nachwehen des 11. September, in denen jeder Muslim besonders in den USA unter Generalverdacht gerät, zur Verräterin wird.
Hiroko zieht nach Sajjads tragischem Tod nach New York zu Ilse, und Reza und Harry arbeiten zusammen in den Projekten einer Firma, die privates Militär stellt. Das Thema Afghanistan ist immer virulent und lässt insbesondere Reza, der mit Afghanistan ein ganz besonderes Erlebnis verbindet, nicht los. Die Anschläge vom 11. September und deren Folgen werden für Reza und Kim zur tragischen Falle. Kim und Hiroko bleiben zurück, beide innerlich heimatloser denn je.
Shamsie erzählt „Verglühte Schatten” – der Titel bezieht sich auf die schweren Brandnarben in Form von Vögeln auf Hirokos Rücken – mit großer Empathie für ihre Figuren, die allesamt dem realen Leben entsprungen sind. Dazu arbeitet der Roman mit großer Präzision die jeweiligen historischen Hintergründe ein. Shamsie hat genau recherchiert – so genau, dass ein westlicher Leser sich schon ein wenig auskennen muss, z.B. was Paschtunen und Hazara miteinander zu tun haben.
Dennoch ist „Verglühte Schatten” ein Roman für Leser mit jeglichem kulturellen Hintergrund, auch wenn man nur grob mit dem geschichtlichen und politischen Hintergrund vertraut ist. Am Ende ist es das menschliche Verhalten, die Missverständnisse, die zu falschen Beurteilungen und Fehlentscheidungen führen, die jedem Leser verständlich sind. Shamsies Stil ist fließend und fesselnd zugleich. Man möchte kaum aufhören zwischendrin, ich habe den Roman tatsächlich in gut 2 Tagen zügig durchgelesen.
Kamila Shamsies „Verglühte Schatten” ist gleichzeitig große und dem Leser zugewandte Literatur. Shamsie ist eine große Erzählerin und ich hoffe, dass in Zukunft von ihr noch mehr zu lesen sein wird.
Kamila Shamsie: „Verglühte Schatten”, deutsche Taschenbuch-Ausgabe 2010.
Weitere Lesetipps zu Kamila Shamsie:
„Verbrannte Verse”, deutsche Taschenbuch-Ausgabe 2006
„Kartographie”, deutsche Taschenbuch-Ausgabe 2005
„Salz und Safran”, deutsche Taschenbuch-Ausgabe 2006
Dieser Beitrag erscheint außerdem auf frida2003.jimdo.com
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