Die Kante

Es sind nur wenige Meter asphaltierter Fläche, von Kaugummiflecken vernarbte Meter. Die Enden einer Lakritzschnecke, das Ende eines Reißverschlusses. Zum Schutz der Reisenden markiert eine Linie den Sicherheitsbereich. Es gibt lauschigere Orte als die Bahnsteigkante. Leisere und ehrlichere. Sind sie nicht alle im gleichen Muster gestrickt? Hat nicht jeder Bahnhof das, was jeder hat? Schwebt nicht über allem der Dunst von Abschiedsangst und Ankunftsfreude, von Wiedersehen und auf Wiedersehen?

Ansagen aus gehämmertem Blech künden von Verspätungen. Ein Selbstmord auf der Strecke wird als vorübergehende Betriebsstörung vermittelt, und gleich gegenüber: „Vorsicht an der Bahnsteigkante, der Zug fährt sofort ab!“ klingt wie eine Drohung. Durch die milchig gewordenen Scheiben zwängen sich diffuse Leuchtreklamfarben, denen tagsüber niemand ein Auge schenkt.

Wer die Eile sehen will, der kommt hier her, wer die Langeweile nicht fürchtet auch. Es gibt Beobachter, denen sich der unrasierte Obdachlose wohnhaft zwischen Dortmund und Berlin ebenso als Bild einbrennt, wie die stark geschminkte Frau mit dem falschen Pelz, das Kind, das auf die soeben eingetroffene Oma zu rennt und schreit: „OoooooMaaa!“ während der Opa dazu lächelt.

Hinter den Scheiben der nur kurz haltenden Züge döst es, oder schaut den Aus- und Zusteigenden zu, wie sie mit ihrer Habe zurecht kommen, wenn sie sie wie unbeholfene Ameisen bugsieren. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass nicht einer hier ist, der diesen Ort liebt, der dieser Kante mehr Wert gibt als sie hat. Und da, kaum zu sehen, doch wahr, eine gelb blühende Blume im Schotter. Vom Gift nicht erreicht, das man zwischen die Steine sprüht, um so etwas wie Sauberkeit zu zaubern.

An den Treppenstufen nach unten hasten die nach oben, denen die Zeit fort lief und soeben der Zug. In ihren Augen Erstaunen, auch Ärger über das Missgeschick. Eine Taube watschelt gelangweilt umher. Die Stimme der Durchsage hat bald Feierabend. Man hört, dass sie genervt ist. Manchmal dringt ein Strahl des Sonnenlichts durch zersprungenes Gitterglas, weht ein Wind durch den Tunnel des Vorübergehens und trifft auf die Wimperntusche, die wie auf der Flucht die Wangen herab rinnt. „Es wird nicht lang“ höre ich, „nur ein Jahr!“ Und sie glaubt nicht an ein Jahr, und er glaubt noch an Wunder.

Es ist November, doch interessiert es die Bahnsteigkante? Sie ist neutral und trennt. Sie trennt die Winkenden von denen, die ein Tuch aus der geöffneten Scheibe halten, wenn es die noch gibt. Bis der Zug in jene Kurve einbiegt, die unweigerlich kommt, wenn die Unsichtbarkeit beginnt. Ähnlich der Spur eines Flugzeugs, wenn man lange genug wartet, dass es Zeichen malt am Himmel, bis sie verwischen mit dem Wind.

Ich gehe zurück. Nehme die Treppenstufen und laufe dem Strom entgegen, der aus Menschen besteht aus einer Quelle…

  • Während man den Text liest, sieht man den Autor auf dem Bahnhof sitzen und sich Zeit nehmen für diese intensiven Beobachtungen. Und das Kopfkino zaubert jede Szene, die er sicht, in Bilder.
    Toll gemacht!

  • Auf den Bahnhöfen passiert so viel. Man muss sich nur umschauen, in die verhärmten, traurigen, vielleicht glücklichen Gesichter blicken… und hat gleich Geschichten, die das Leben schrieb.
    Man´muss nur noch Worte finden…so wie du.

    Grüße…

Du musst eingeloggt sein, um zu kommentieren.