Jahrestage

Auch nach langer Zeit waren die Jahrestage immer noch ganz besondere Tage. Sie widmete sich an diesen Tagen ihrer Mutter, besuchte ihren alten Heimatort, in dem sie aufgewachsen war, befand sich mit einer Mischung aus Wehmut und Freude auf den Spuren ihrer Kindheit oder traf sich mit ihrer Cousine, mit der sie stundenlang lachend über alte Zeiten reden konnte.
Je älter sie beide wurden, desto mehr schwelgten sie in Erinnerungen ihrer gemeinsam verbrachten Kindheit, je älter sie wurde, würde sie der Mutter immer ähnlicher, meinte ihre Cousine.

Heute, an diesem heißen Augusttag, möchte sie jedoch allein bleiben. Der alte Hutkarton mit den Papieren, Briefen, Postkarten und schon teilweise verblichenen Fotos ihrer Familie würde ihr Gesellschaft leisten.
Irgendwann waren die Fotos chronologisch geordnet worden, ganz oben lagen die Jüngsten aus den neunziger Jahren und ganz unten die, die ihr aus den Sechzigern geblieben waren.

Sie fängt mit den Hochzeitsfotos ihrer Eltern an. Jedes Mal, wenn sie die Schwarz-Weiß-Fotos mit den typischen Zacken am Rand betrachtet, tut sie es mit einer großen Aufmerksamkeit, als hätte sie die Fotos noch nie gesehen. Ihre damals 22jährige Mutter sah sehr jung und schön aus, sie war schlank, um nicht zu sagen dünn und trug ein wunderschönes Kostüm zu ihrer Trauung. Ihr Vater war dunkelhaarig, hochgewachsen und ebenfalls sehr schlank.
Sie arbeitet sich dank der vielen Fotos durch ein ganzes, aber kurzes Leben.
Foto für Foto legt sie zur Seite.

Das Letzte zeigt ihre Mutter Ende der neunziger Jahre. An diesen Tag erinnert sie sich genau – Bilder, Momente und Sequenzen gehen ihr durch den Kopf, als wäre es gestern gewesen. Es muss Ende Juli gewesen sein. Sie waren zusammen im Urlaub an der Nordseeküste, es war ein relativ kalter Tag. Sie hatten schon zehn Tage Aufenthalt hinter sich, unternahmen lange Spaziergänge in Regenstiefeln und Windjacken, wärmten sich in Cafès auf, aßen warmen Apfelstrudel mit Sahne, gingen ins Meerwasserschwimmbad, und träumten von der Sonne, Strandtagen und Sonnenbaden in Badeanzügen.

Irgendwann kam dann endlich dieser Tag mit Sonnenschein, der erste Tag am Strand, der erste Tag im Strandkorb. Sie wird es nie vergessen – es waren 18 Grad Lufttemperatur und wie viel Grad die Nordsee hatte, wollten sie gar nicht wissen. Aber sie waren am Strand, am Meer, dort, wo ihre Mutter sich am wohlsten fühlte!
Keiner der anderen Urlauber war im Wasser, alle versuchten frierend im Strandkorb die Sonne einzufangen, nur ihre Mutter – die war so verrückt, sie musste in die Fluten springen, das Meer spüren.

„Mutter, komm da heraus, es ist zu viel kalt, das tut deinem Husten nicht gut “, hört sie sich rufen und die lachende Stimme ihrer Mutter antwortet: „Du bist eine Memme, lass mich doch, wer weiß, wann ich mal wieder im Meer schwimmen kann.“
Als sie aus dem Wasser herauskommt, schreit sie lachend: „ Nun mach endlich mal ein Foto von mir am Strand, damit die Leute auch glauben, dass wir in unserem Urlaub sogar schwimmen waren.“

Und sie – sie drückt auf den Auslöser.
Fotografiert ihre Mutter im Badeanzug an der Nordsee, an diesem kalten Juli-Tag.

Es sollte das letzte Foto von ihr sein. Es zeigt ihre Mutter im Badeanzug allein am Strand, hinter ihr die Wellen der Nordsee. Die Sonne spiegelt sich im Wasser.
Sie winkt der Fotografin lachend zu.

Etwas mehr als ein Jahr später starb sie.
Und hatte in dem Jahr tatsächlich nie mehr Gelegenheit zu einem Bad im Meer.

Sie legt die Fotos wieder zurück in den Karton, und verschließt ihn mit dem dazugehörigen Deckel.
Die Fotos würden mit den Jahren vergilben, ihre Erinnerungen an ihre Mutter jedoch nie.

  • Sehr schön erzählt, mit viel Gefühl für die Situation und den Schatz der Erinnerung.
    Schön, dich wieder hier zu lesen! 😀

  • Mir fällt es bei diesem Text nicht schwer ihn zu kommentieren. Obwohl er nicht leicht ist im Sinne von Leichtigkeit, obwohl er Dimension hat, die über das Schwarz Weiß Format hinausgeht und das am Rande gezackte Leben zeigt, das an einem Tag lachen kann, um im selben Moment zu weinen.

    Grüße buckj

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