Klang des Lebens
Der Saal war bis zum letzten Sitzplatz voll. Das Scheinwerferlicht war auf Ava gerichtet, eine junge aufstrebende Cellistin die soeben ein Engagement bei der Honolulu Symphony. Eigentlich zitterte sie am ganzen Leib vor Aufregung, doch das fiel niemandem auf, denn ihr Spiel ließ das Publikum im Meer der Töne versinken. Das Lampenfieber vor und während eines Auftrittes war stets dasselbe, doch als der Applaus einsetzte, überkam sie pures Glück. Die Musik bedeutete für sie Freiheit zu leben.
Ava lernte den zwanzig Jahre älteren Pianisten Rob bei einem Jazzkonzert kennen. Sie war seine Muse, denn wegen ihr und für sie komponierte er Lieder für seine Jazzband. Sie betete Rob an, denn er machte sie offen für all die anderen Empfindungen, die sie wegen der Musik vernachlässigte. Doch wirklich Glücklich war sie in der Beziehung nicht. Ihr fehlte die Leidenschaft. Sie meinte, sie müßte dasselbe erleben, welche sie in der Musik spürte.
Der Regen prasselte auf das Dach und der Wind ließ die Palmblätter aneinander peitschen. Fahles Licht durchflutete das Schlafzimmer. Ava und Rob lagen im Bett, als er sie fragte: „Bist du glücklich?*. Sie zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch aus, und starrte ihn nur an. Es war einer jener Tage, die sie nicht mochte. Sie wollte sich nicht mit solchen Dingen befassen. Sie stand auf und ging auf die Veranda. Der kühle Wind machte sie wach und ließ ihre innere Unruhe um so mehr spüren. Sie hörte, den Klang des Klaviers. Rob spielte, wenn er niedergeschlagen oder voller Lieber war. Als der Regen vorbei war, schien die Sonne, als sei nichts geschehen, doch tief im Innern wußten Ava und Rob, daß sie keine gemeinsame Zukunft haben würden, doch keiner sprach es aus.
Wie so oft irrte Ava nach den Proben noch Stunden umher, nur um Rob aus dem Weg zugehen. Als sie durch den Park ging, traf sie auf ihn, denn er paßte sie ab. „Da du nicht nach Hause kommst, komme ich dir entgegen.“, sagte er mit fester Stimme, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen. Ava verstand nicht sofort und ging auf ihn zu. „Aber ich komme doch nach Hause. Laß uns gehen.“, erwiderte sie und nahm ihn bei der Hand, doch er wehrte ihr Griff mit einer Handbewegung ab und ging auf Abstand.
„Ich dachte, daß du mich liebst, doch du liebst nur dich und deine Musik. Da habe ich keinen Platz.“
„Das ist nicht wahr. Ich liebe dich.“
„Du willst nicht beides haben. Du lebst in deiner eigenen Welt und läßt mich außen vor. Das ist keine Liebe und keine Beziehung.“
„Aber ich kann mich ändern. Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Laß mir einfach ein bisschen Zeit.“
„Ich denke nicht, daß du das wirklich willst. Ich liebe die Musik auch, so wie du es tust. Aber ich will mehr, ich wollte dich. Ich bedeute dir nichts. Ich fühle mich wertlos neben deiner Musik. Es ist besser, wenn wir uns trennen.“
„Das meinst du doch nicht ernst? Bitte laß mich nicht alleine, geh nicht fort. Ich will nicht alleine sein!“
„Ich glaube, du willst es. Du bist so abgestumpft was Gefühle der anderen betrifft, daß du gar nicht merkst, was ich für dich empfinde. Ich kann nicht auf dich warten. Der Schlüssel liegt auf dem Tisch.“
Rob drehte sich um und verschwand im Dunkel der Nacht und ließ Ava zurück. Im ersten Augenblick war sie geschockt, aber sie vergoß keine Träne. Langsam lief sie nach Hause, vorbei am Treiben und Lärm der Stadt. Sie wälzte sich im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Draußen war nur das Rauschen der Wellen des Meeres zu hören und eine beklemmende Stille umgab sie plötzlich, die sie bisher noch nicht kannte.
Es folgten Tage, an denen Ava keinen Ton spielte und manchmal dachte sie, daß sie das Cello spielen an den Nagel hängen sollte, bis sie merkte, daß sie schwanger war.
„Was?!“, sagte sie entsetzt der Arztgehilfin.
„Beruhigen Sie sich. Sie sind nicht die Erste…“, entgegnete diese und lachte.
Sie fragte sich, was sie nun tun sollte. Sie wollte keine Kinder. Sie wollte nicht gebunden sein an Sachen, denen sie nicht gewachsen war.
Es vergingen ein paar Wochen, bis sie sich an die neue Situation gewöhnte, aber nun freute sie sich. Denn wenn immer sie Cello spielte, fühlte sie, wie das Ungeboren sich bewegte, als würde es zum Takt wippen.
„Warum hast du mir nichts davon gesagt?“, fragte Rob, als sie diesen bei einem Festival der Honolulu Symphony nach Monaten wiedersah. „Ich bin so enttäuscht von dir, du kannst es dir gar nicht vorstellen. “ Ava starrte nur auf den Boden. Sie wußte gar nicht, wie sie reagieren sollte und es war ihr in diesem Augenblick auch nicht bewußt, was sie Rob damit antat. Ava ging jedem aus dem, der sie auf die Beziehung mit Rob und das Kind ansprechen könnte. Doch Rob ließ nicht locker und machte alles, um an ihrem Leben wieder teilhaben zu können. „Du bist gegangen. Weißt du nicht mehr? Und nur weil du der Vater des Kindes bist, drängst du dich mir auf?“. Wutentbrannt lief sie aus dem Zimmer und brach zusammen.
Nach Wochen des Regens, schien die Sonne durch das Fenster und fiel auf Ava blasses Gesicht. Sie schlug die Augen auf und mußte sich an das helle weiße Zimmer gewöhnen. Rob hielt die kleine Malou im Arm und wippte es sachte, dabei summte er ein Lied, was er einmal für Ava geschrieben hat. Ava beobachtete die Szene und spürte so etwas wie Zufriedenheit. Dieser Moment ließ sie umdenken und sie wünschte sich, daß Rob bei ihr bliebe und sie zusammen dieses Kind großziehen würden.
Die Monate vergingen und der Alltag schlich sich ein. Rob war an den Abenden mit seiner Band unterwegs, während Ava sich um das Baby kümmerte. Sie wurde traurig, weil ihr die Musik fehlte. Sie beendete die Saison beim Orchester und unterzeichnete nicht für eine weitere. Statt dessen gab sie nur noch Unterricht. Sie spielte auch Malou vor. Ava stellte sich vor, wie das wäre, wenn ihre kleine Malou genauso musikalisch wäre, wie sie und Rob. Sie sang ihr vor, kaufte ein kleines Xylophon, eine kleine Trommel. Aber all dies ließ Malou liegen. Als es Zeit war, sprechen zu lernen, gab Malou keinen Ton von sich, was Ava sehr beunruhigte.
„Es tut mir leid, Ava.“, sagte Paulina, die Kinderärztin. Ava verließ die Praxis mit Malou auf dem Arm und schwieg. Sie schwieg eine ganze Woche. Der Schmerz über die Nachricht, daß Ava nicht hören konnte, war zu tief. Sie war mit dieser Situation überfordert und verließ von einem Tag auf den anderen das Haus. Für Rob war es nicht das erste Mal, daß Ava ihn vor vollendete Tatsachen stellte, und nahm sich um Malou an. Ava erhielt derweil ein Engagement in Sydney und verließ das Land. Obwohl sie den Kontakt nicht zu Rob und Malou verlor, wollte sie nicht weiter Anteil am Leben der Beiden haben und machte mit dem Wegzug einen Schlußstrich unter diesen Lebensabschnitt.
Malou wurde zu einer bildhübschen jungen Frau. Auch sie hatte eine Leidenschaft. Genauso wie für ihre Mutter das Cello und für ihren Vater die Jazzmusik, war es das Tanzen, was Malou begeisterte. Auch wenn sie die Melodie nicht hören konnte, ließen die Beats den Boden vibrieren und das Kribbeln in ihren Beinen die Musik wahrnehmen. Die Musik dröhnte unangenehm laut aus den Boxen, aber nur so, konnte Malou sie am ganzen Körper spüren. Sie tanzte besser, als die Tänzerinnen, die hören konnte, und wenn man ihr nur zusah, und die Musik wegließ, merkte niemand, daß sie taub war.
Für Gehörlose war Malou ein großes Vorbild. Denn sie ließ sich durch ihre Behinderung nicht behindern. Zusammen mit der befreundeten Tanzlehrerin, Elaine, gründete sie Vibe, eine Tanzschule für Gehörlose.
„Ich bin so aufgeregt“, sagte Malou in Gebärdensprache zu Rob. Er umarmte sie fest und strich ihr über das Haar. Es wurde dunkel im Saal, der Vorhang ging auf und die Scheinwerfer waren auf die Tänzer gerichtet. Sie bewegten sich synchron, mit einer Energie und Leidenschaft, daß es die Zuschauer magisch faszinierte.
„Es ist schön, daß du es auch geschafft hast.“
„Meinst du, ich lasse es mir entgehen, meine Tochter zu sehen?“
„Jetzt auf einmal, wo du gehört hast, daß sie erfolgreich ist?“
„Das ist nicht fair Rob.“
„Es ist nicht fair, daß du uns alleine gelassen hast und abgehauen bist. Dir war deine Karriere wichtiger als wir.“
„Sei still!“
In Gebärdensprache, erzählte Rob Malou, daß es ihrer Mutter gefallen hatte. Sie fragte ihn, wo sie war, doch insgeheim ahnte sie, daß sie wohl schon weg war bis jemand auf ihre Schulter tippte. Malou lachte über das ganze Gesicht.
„Vielleicht ist es Zeit nach Hause zu kommen. Glaubst du, sie kann auch zu Cello tanzen?“, fragte Ava Rob. Dieser nahm Ava und Malou bei der Hand. Gemeinsam entdeckten sie die Musik neu, welche sie zusammenhielt.
Songline
17. Mai 2011
Eine Geschichte, wie sie das Leben schreibt, nur dass die meisten Geschichten im wahren Leben nicht so gut enden. Ich dachte bei Malou an „Sie mag Musik nur wenn sie laut ist“ von Herbert Grönemeyer.