Sahara-Lilie

Sie malte. Schon wieder. Diesmal war es eine Blume.
„Sie sieht sehr zart aus“, sagte ich und betrachtete die durchschimmernden rosa Blütenblätter. Sie sahen aus, als würden sie zerbrechen, in winzige Glasscherben zerspringen, wenn man sie berührte.
„Das sind sie auch“, erklärte sie. „Zart und doch unzerstörbar. Es ist eine Blume, die nur in der Sahara wächst, in Marokko zum Beispiel. Warst du schon einmal in Marokko? Ich glaube, ich würde das Land gerne einmal besuchen.“ Sie legte den Kopf schief und fügte eine filigrane Ader hinzu. Gedankenverloren, wie immer. Wenn sie malte, schien sie nicht hier zu sein, sondern in der Welt, die sie schuf. Selbst, wenn es ein Abbild der Wirklichkeit sein sollte.
„Wie steht es mit… diesem Typ… – David?“, fragte ich, unsicher, ob sie die Frage nach dem Leben im Diesseits überhaupt verstehen würde. Doch zu meiner Überraschung lächelte sie. Auf ihre eigene, verträumte Art. „Gut.“ Ihr Pinsel fuhr die Umrandung der Blätter nach. „Ich weiß noch nicht viel über ihn, aber ich glaube, das könnte etwas werden.“ Kurz hielt sie inne, den Pinsel erhoben, abwartend, was ihr die nächste Eingebung diktieren würde. „Ich mag ihn“, beschloss sie schließlich und tupfte einen Lichtreflex auf die Leinwand.
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Überall und Nirgendwo

Nichts hielt ihn. Immer war er auf Reisen, immer unterwegs, ohne Ruhe, ohne Rast. Fast wie eine Krankheit, wie ein Wahnsinniger. Ständig in Bewegung. Ohne Ziel. Ohne feste Richtung. Durch die ganze Welt. Schon seit Jahren lebte er so. Seit er jung war, wanderte er. Nach Norden, nach Westen, nach Süden, nach Osten. Egal wohin. Hauptsache voran gehen. Hauptsache in Bewegung bleiben, sein unruhiges Herz neue Nahrung geben. Seine Neugier nach dem Unbekannten stillen. Tausend Orte hatte er schon gesehen. Jedes Land hatte seinen Reiz, seine Eigenarten, seinen Charakter. Doch es waren nur Haltestellen auf seinem Weg. Nichts Festes. Nichts Sicheres. Nichts, was ihn innerlich befriedigte.
Damals mit zwanzig war er losgelaufen. Natürlich schluckte sein zielloses Umherirren Geld, doch er besaß genug, im Überfluss. Vielleicht legte er deswegen keinen Wert darauf. Geld war nur ein Mittel, um sich Glück zu verschaffen, kein Gegenstand, der durch seine bloße Existenz glücklich machte. Und ihm half es die Welt zu entdecken, die Welt und ihre Menschen. Er musste alles sehen, von allen Speisen probieren. Keine Bindung hielt ihn fest. Freunde hatte er gehabt, doch keine der Freundschaften spannte einen Strick, kettete ihn an seine Heimat.
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Auf der Suche

Die Zeit war gegangen.
Einfach so!
Von einer Sekunde auf die nächste war sie verschwunden.
Gerade noch war sie da und plötzlich war sie weg.
Wohin?
Das wusste niemand.
Ob sie wiederkommen würde.
Unwahrscheinlich.
Sicher die Zeit war ständig unterwegs. Nie kam sie zum Stillstand, ständig holte sie uns ein, war dauernd schneller als wir, aber diesmal, diesmal war sie gänzlich weg und ich habe sie nicht vorbeiziehen sehen.
Und deswegen bin ich losgezogen, um die Zeit zu suchen. Niemand kann einfach so verschwinden, selbst sie nicht. Also werde ich sie finden und zurück bringen, zurück zu mir und ihn. Die Zeit konnte uns nicht einfach im Stich lassen, nicht jetzt, wo er hier vor mir lag, schwach und hilflos.
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Endstation

Der Zug spuckte sie zusammen mit einer Ansammlung von Fremden auf den Bahnsteig. Sechzig Minuten blieben ihr – zu viel Zeit, um sich Gedanken zu machen und zu wenig, um etwas damit anzufangen. Energisch drängten sich die Menschen an ihr vorbei, setzte sich der Strom vor ihr in Bewegung. Alle schienen ein Ziel zu haben. Sie war vorläufig an ihrem angekommen und weigerte sich, der Masse zu folgen. Sollten die ausgebeulten Koffer und Plastiktüten mit den daran hängenden Menschen doch ihr zielloses Treiben fortsetzen, sie würde einfach stehen bleiben. Ab und zu die Ellbogen ausfahren, damit jemand strauchelt auf seinem geraden Weg.
Die Bahnhofshalle roch nach abgehetzten Körpern und gestrandeten Erwartungen. In ihrem Mund der Geschmack der langen Fahrt. Dort hatten sich Müdigkeit, ein Schinken-Sandwich und ihre wirren Gedanken zu einem unappetitlichen Brei verbunden. Ob wohl jemand ihren schlechten Atem bemerkt hatte? Der Schaffner vielleicht oder der ältere Herr, der ihr gegenüber gesessen und sich selbst von seinem Leben erzählt hatte?
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Reise der Irrwege

Hallo ich bin der Kastor und strahle von Innen heraus auf meiner Reise in eine leuchtende Zukunft.
Ich bin kein fossiler Energieträger aber für viele ein Fossil.
Von den Strapazen meiner diesjährigen Tour möchte ich hier berichten.
Start und Ziel sind immer identisch, nur die Route und die Fahrzeit ändern sich. Die, die ihren Nutzen und Gewinn aus mir gezogen haben, besorgten mir das Ticket aber kümmerten sich nicht um die Transportkosten. Für freie Fahrt sorgte die alte Tante in Berlin und ihre Kumpel aus der Atomlobby.
So wie man sich um die Laufzeitverlängerung meiner Kraftwerke bemühte, damit diese Reise der Irrwege noch weiter andauert. Alles zum Wohle des Volkes, oder zumindest einem kleinen Teil davon, der zufällig aus den Machern der Energiewirtschaft besteht.
Ich bin der populärste Passagier der Bahn denn ich mobilisiere fast so viele Menschen, wie ein Karnevalsumzug. Viele, denen die Zukunft unseres Planeten am Herzen liegt, wollen mich aufhalten um damit ein Zeichen zu setzen.
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An einem seltsam langen Tag

Sein Großvater hatte das Haus einst erbaut, und es stand gut geschützt vom Lärm der Straße und viel Wiese und wildgewachsene Sträucher umsäumten seine Mauern. Ein kleiner Teich war einmal angelegt worden und verschiedene Laubbäume sind in den Jahren hoch und dicht gewachsen. Es war ein kleines, aber dennoch gut bewohnbares Haus. Doch nun gehörte es dem Handwerker ganz allein, denn alle Generationen, die seine Räume einst mit Leben füllten, waren nicht mehr.
Am frühen Morgen also machte sich der Handwerker endlich daran, das alte Haus, und wenn es die Zeit zuließ, auch den Garten in Ordnung zu bringen. Denn er war noch jung wie dieser Frühlingsmorgen und hatte allen Schwung und die Kraft, so dass es leicht sein dürfte, die notwendig gewordenen Reparaturen an diesen Tag zu schaffen. Die noch zarten Knospen an den Bäumen waren kurz vor dem Aufspringen, und er fühlte sich gut und begann mit seiner Arbeit.
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Abenteuer auf dem Friedhof

Katy, ein sehr dickköpfiges, schönes Mädchen dachte immer im Recht zu sein. Als ihre Mutter ihr eines Tages Hausverbot für einen Monat erteilte, weil Katy eine 5 in Mathe hatte, war es für Katy der Schlussstrich. Sie hatte keine Lust mehr auf ihre Familie und entschied abzuhauen. Nach der Schule begab sich das Mädchen auf eine Reise ohne genauem Ziel. Hauptsache weg von zu Hause. Denn einen Monat in ihrem eigenen Haus eingesperrt zu sein, könnte sie nie verkraften. Das Straßenleben konnte ja nicht so schwer sein. Zuerst saß sich Katy auf die Bank die an der Haltestelle neben ihrer Schule stand. Normalerweise würde sie dort auf ihren Bus warten, aber der Tag war eine Ausnahme. Natürlich war es sehr langweilig und kalt, aber da Katy es ihrer Mutter so richtig zeigen wollte, würde sie selbst bei -20 Grad sitzen bleiben. Sie ließ alle Busse an ihr vorbeifahren. Einige Sekunden später stand das Mädchen wieder auf und dachte nach, wo sie denn nur hingehen könnte. Ihre Füße spürte sie kaum mehr und ihre Hände waren auch unbeweglich von der Kälte. In der Nähe von der Schule musste ein Friedhof sein.
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Unterwegs in der Nacht

Tap, tap tap.
Lauf schneller!
Tap, tap, tap.
Sie kriegen dich noch!
Füße berühren kurzzeitig den Boden. Nackte Füße. Sie rennt barfuss. So ist sie leiser.
Dachte sie.
“Mädchen. Bleib stehen!“
Zwei Paar Füße hört sie hinter sich. Das eine sehr schwerfällig. Sie kommen nicht näher. Der Abstand bleibt gleich.
Nie hätte sie mit Wachmännern gerechnet. Sie war kaum fertig mit ihrem Werk gewesen, als die beiden auftauchten. Überstürzt musste sie fliehen.
Nun biegt sie um die Ecke. Kies unter ihren Füßen. Ein Zaun vor ihr. Mist!
Diese blöde Lederfabrik hatte ihren zweiten Fluchtweg zunichte gemacht und das Loch geflickt.
Sie rennt am Zaun entlang. Hier wächst Gras, so ist sie leiser. Sie war schon öfter nachts unterwegs. Ihre Augen sind sehen gut. Doch plötzlich stolpert sie, strauchelt, verliert ihre Tasche und tritt auf etwas Spitzes. Eine Zange!
Gut fünfzig Meter entfernt tritt ein dritter Wachmann ins Licht einer Laterne.
“Das Spiel ist aus, Mädchen. Du kommst jetzt schön zu mir und dann wirst du der Polizei erklären warum du „Tiermörder!“ an die Außenfassade gesprüht hast.“
Oh, nein. Das würde sie nicht!
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Urbane Tagträume

Die Sonne brennt durch das heruntergelassene Dach des Spiders, der Wind tobt durch den Innenraum. Nichts zwischen sich und dem Himmel zu haben erfüllt ihn mit Hochgefühl, er spürt es. Es ist unaufhaltsam. Freiheit. Es pfeift und tost so laut, Windschott hin oder her. Wenn er lange Haare gehabt hatte, wären sie ihm im Gesicht hin und her geweht. Er meint fast ihren Geschmack im Mund zu schmecken. Aber nichts. Der Motor brüllt ihn an, 10 Zylinder entfesseln eine Symphonie, die ihres gleichen sucht. Vor ihm nur ein Asphaltgrauer Strich soweit das Auge reicht. Er tritt beherzt noch mal auf das Gaspedal, der Motor heult auf. Der Wagen wird merklich schneller aber die Unendlichkeit des Asphaltbandes zeigt sich unbeeindruckt und zeigt nur noch mehr Weite. Es ist schon fast ein wenig beklemmend. Nichts was er tut, kann an der vermeidlichen Unendlichkeit des Weges etwas ändern.
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Familienurlaub

„Wann sind wir denn endlich da?“ Jan, Ellas fünfzehnjähriger Sohn, schob mürrisch das Gesicht zwischen die Kopfstützen der Vordersitze des Audis. „Ist ja zum Einschlafen hier.“ Er gähnte demonstrativ.
„Dann schlaf doch oder schau dir die Landschaft an“, sagte Ella.
„Scheiß Landschaft.“
„Erst mal ziehst du gefälligst den Kopf zurück!“ Hermann, Ellas Ehemann, presste seine Hand gegen Jans Stirn.
„Ich hab Hunger und muss Pipi“, meldete sich in diesem Augenblick ihre vierjährige Tochter Lara.
„Nimm den Kopf weg! Verflucht!“
Jan zog sich auf den Rücksitz zurück, kniff die Lippen zusammen und verschränkte die Arme.
Ella warf ihm einen flehendlichen Blick zu. „Bitte, Jan.“
„Es ist stink langweilig.“ Die Lippen ihres Sohnes bebten. Mit seinem Blick schien er die Rückenlehne des Fahrersitzes zu durchbohren.
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