Aus den Notizen eines erfrorenen Landstreichers

Kälte. Der erste Eindruck eines neuen Morgens ist immer Kälte. Egal was ich tue, wo ich auch bin, sie kriecht verstohlen unter die dicksten Stoffschichten und nistet sich ein. Kälte ist verlässlich. Sie ist bei mir, wenn ich die Augen öffne und sie schmiegt sich an meine Seite, wenn ich ruhe. Ich kann sie nicht abschütteln, ihre Krallen widerstehen den Sonnenstrahlen eines heißen Spätsommertages und der Wärme eines knisternden Feuers in einer Tonne voll altem Papier.
Soweit meine Erinnerung in die Vergangenheit reicht, war sie mir nahe, folgte, wo immer ich mich auch hin wandte. Ich weiß, dass sie nichts Böses will, wenn sie mir in der Nacht auflauert. Sie tut es einfach, weil da sonst gar nichts wäre.
In den frühen Tagen versuchte ich, ihr auszuweichen, verbarg mich im Schatten rostiger Container oder in den engen Gassen weltentrückter Viertel, wo man nur kleine Ausschnitte des Himmels sieht und jedes Gesicht ein Leben erzählt. Doch die Kälte fand mich an allen Ort, ließ sich bei mir nieder, bewundernswert in ihrer Treue. Resignierend erkannte ich, dass Flucht unmöglich war.
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Alltäglicher Wahnsinn

Ein Schwall stickiger Luft kam mir entgegen als sich die Tür der Straßenbahn öffnete. Wobei Luft? So konnte man das Gemisch aus Schweiß, Parfüm, Alkoholresten und anderen undefinierbaren Gerüchen kaum nennen, das mir der öffentliche Nahverkehr morgens um Sieben zumutete. Alle Fenster waren geschlossen, schließlich waren es draußen nur drei Grad plus. Lieber ersticken als erfrieren. Warum zogen sich die Leute nicht für Draußen an?

Seufzend drängte ich mich in die überfüllte Kabine und versuchte noch eine der Stangen zu erwischen, an denen ich mich festhalten konnte. Dass ich dabei die feuchte Achselhöhle eines Mannes vor mir hatte, der die Jacke schon seit langem nicht mehr gewaschen hatte, ließ mich schauern. Und ich überlegte schon, wieder auszusteigen. Aber, wie so oft, war ich eingezwängt. Ich versuchte flach zu atmen und an irgendwas schönes zu denken. Einen Ausritt mit meinem Pferd im Wald bei Vogelgezwitscher. ‚Warum war nur das Gezwitscher so laut und hörte nicht mehr auf?‘ fragte ich mich. Dann erst stellte ich fest, dass das der Klingelton des Handys des Schuljungen neben mir war. Er schien grade mal 13, schien aber jede Menge zu erzählen zu haben. Ach ja, es war ja Nikolaus gewesen. Eine Wii ? Hm.. interessant, was man heutzutage so zum Nikolaus bekommt. 100 Euro. Ein Waveboard. Und was gibt es dann zu Weihnachten? Ich runzelte die Stirn. ‚Zu meiner Zeit gab es einen Süßigkeitenteller und vielleicht eine Hörspielkassette‘ überlegte ich. ‚Zu meiner Zeit?‘ Plötzlich fühlte ich mich mit meinen 30 Jahren furchtbar alt.
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Der kleine Regenbogen Schmetterling auf der Reise

Es lebte da einst ein kleiner bunter Schmetterling, in einem Land jenseits der Erde.
Seine Heimat war eine große wunderschöne Wiese! Auf dieser blühten zig tausend verschiedene Blumen.
Kristalle, Feen, Naturgeister, Tiere waren auch vertreten. Die Feen spielten versteck miteinander, die Elfen sorgten für
musikalische Unterhaltung, die Naturgeister kümmerten sich derweil um die Gartengestaltung und um die Platzen und Wiese.

Auf dieser gab es wundersame Schmetterlinge, solche die es
bei uns nicht gibt.Einige von ihnen glitzerten, andere schillerten, in verschiedenen, Farben.
Und ein jeder von ihnen konnte musikalische Töne von sich geben.
Nur da gab es einen der unterschied sich von allen anderen Schmetterlingen.Er war Regenbogenfarben!
Aber, anstatt sich darüber zu freuen, dass er so selten und anders war als seine Freunde, regte er sich darüber auf!
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Die Zeitungsverteilerin

In der Vorweihnachtszeit wurden viel mehr Prospekte mitgeliefert als sonst, die Verteiler mussten sie selbst in die Zeitungen einlegen. Bencke war stolz auf ihren großen Bezirk. Doch neunmal Werbung für dreihundertfünfzig Stück Wochenblatt, da war es zehn Uhr durch, bis sie sich endlich die Druckerschwärze von den Händen schrubben konnte. Alle drei Stapelboxen standen bis zum Rand vollgepackt vor der Tür, festgezurrt auf einer Sackkarre. Schnell zog sie die Jacke an, eine Filzmütze, gepolsterte Fahrradhandschuhe. Die Kälte war ein Schock nach der Gasofenluft, dafür frei vom Geruch frisch bedruckten Papiers. Bencke atmete tief durch, kippte das Gefährt und schob es über den Hof. Diesmal wog es wohl an die hundert Kilo. Bezirk 14 a lag größtenteils in der Fußgängerzone, dort arbeitete es sich angenehm. Doch sie musste erst einmal hinkommen.
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Minus eins

Liebe ist das erste, was ich spüre, das erste, was ich wahrnehme, nachdem ich erwache. Und das, obwohl ich hier ganz allein bin und niemand da ist, um mir ein Gefühl wie Liebe zu geben oder es zu wecken.
Es ist stockdunkel. Um mich herum stehen dicke Mauern, verborgen in der Finsternis. Ich kann sie nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da sind.
Ich liege am Boden, starr, unbeweglich, so als hätte man mich bis zum Kinn einzementiert oder nur mein Bewusstsein wäre hier, losgelöst von meinem Körper, den ich ohnehin nicht spüre. Vielleicht schwebe ich über mir selbst, irgendwo in dieser Dunkelheit. Vielleicht bin ich tot. Tod, das erste Wort, das mir einfällt, nachdem ich erwacht bin.
Ich versuche mich zu erinnern, was vor dieser Finsternis war, aber es fällt mir nicht ein. Und trotz all dem, meiner scheinbaren Leblosigkeit, der Schwärze und der Stille, verspüre ich keine Angst, nicht einmal Unbehagen. Irgendwann werde ich müde und schlafe.
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Hupen

Dr. Martin Meyer saß am Schreibtisch und war verzweifelt. Vor ihm lag eine Aufstellung mit 16 Spalten horizontal und 12 Reihen vertikal. Im Schnittpunkt jeder Spalte und Reihe befand sich eine Zahl. Die Summen der Reihen und die Summen der Spalten mussten zum selben Ergebnis führen. Auf dem vor ihm liegenden Blatt war das nicht der Fall. Die Differenz, die Dr. Meyer hatte, war „Zwei“ und das war das Problem! Eigentlich sollte so ein Problem für Dr. Martin Mayer nicht existieren. Er war Diplom-Kaufmann und hatte über die Gewinnmaximierung in der Pharmaindustrie eine sehr beachtete Doktorarbeit geschrieben. Um allerdings die Chance auf einen hochdotierten Arbeitsplatz in der Pharmaindustrie zu haben, musste er erst einmal praktische Erfahrung gewinnen. Zu diesem Zweck saß er in der Profitanalyse eines multinationalen Pharma-Unternehmens. Er hatte einen dreimonatigen Praktikumsvertrag. Für eine, im Durchschnitt 45 stündige Arbeitswoche, erhielt er 500 € im Monat. Im Allgemeinen war er nicht unzufrieden, denn die meisten Praktikanten bekamen weniger. Aber heute musste er bis spätestens halb sieben diese Schedule korrigieren. Vor ihm lagen 25 weitere Blätter. Für jedes EU-Land gab es ein Blatt, das die europäischen Märkte mit den jeweiligen Volumen, Umsätzen, Kosten und Gewinnen zeigte. Jedes dieser Blätter zeigte rechts unten eine Zahl, die sich durch die Addition oder Subtraktion der Spalten und Reihen ergab. Es war das letzte Blatt mit der Überschrift „Italien“ auf dem die Summen der Reihen und die Summen der Spalten um zwei differierten. Im Großraumbüro saß außer ihm nur ein Kollege. Der war allerdings fest angestellt und würde später die Profits aller europäischen Märkte an das amerikanische Hauptquartier übermitteln. Nur seine Blätter fehlten um diese Tätigkeit zu beginnen. An der Seite des Großraumbüros befand sich das Büro des europäischen Managers, „Profit Analyse“ und auf einmal ließ die Geräuschkulisse hinter der Tür darauf schließen, dass sich Karl Schmitz daran machte heimzugehen.
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Marlon

Wenn ich nervös bin, laufe ich. Stundenlang. Ich kann nicht anders. Sobald ich stehen bleibe, holen meine Gedanken mich ein. Umzingeln mich. Kreisen mich ein. Rücken mir auf die Pelle. Werden immer lauter. Ich laufe vor ihnen davon. Meine neuen Laufschuhe sind schon ziemlich ramponiert. Aber das macht nichts. Am liebsten laufe ich irgendwo, wo ich niemandem begegne, der mich kennt. Zum Glück kennen mich hier nur wenige. Ein paar Nachbarn, die Mitschüler.

Wenn Marlon schreit, verlasse ich sofort das Haus. Ich laufe. Bei Regen, bei Wind, bei Hagel. In der Dunkelheit. Am Fluss entlang, durch die Straßen, durch den Park. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich im letzten Jahr nichts anderes getan als Laufen. Meine Oma hat immer gesagt, Laufen macht den Kopf frei. Mein Kopf wird nicht frei vom Laufen. Sobald ich stehen bleibe, sind die Gedanken wieder da und drehen sich im Kreis. Kopfkarussell. Aber während ich laufe werden die Gedanken leiser. Am Besten ist es, wenn die Füße schmerzen und ich kaum Luft bekomme. Dann werden sie so leise, das es scheint als seien sie verstummt.
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Die Kontaktaufnahme

Im Jahr 1972 wurde die NASA-Raumsonde „Pioneer 10“ auf eine weite Reise durchs Weltall geschickt. Sie sollte in der Gegend von Jupiter einen kurzen Halt machen, um ein paar Fotos zu schießen und dann das Sonnensystem verlassen – auf zu neuen Welten. Die Menschen hofften, jemand würde die Blechkiste eines Tages finden und mit ihnen Kontakt aufnehmen.
Ein Jahr später beförderte die Raumfahrtbehörde eine Schwestersonde, auf den Namen „Pioneer 11“ getauft, ins All. In beiden Sonden wurden Plaketten mit possierlich-naiven Illustrationen und Skizzen untergebracht. Provisorische Weltraumkarten zeigten die Position des Sonnensystems in der Galaxis und die auf den Metallplatten eingravierten Bildnisse sollten intelligente Lebensformen auf den ersten Kontakt mit der menschlichen Rasse vorbereiten.
„Pioneer 10“ hatte jedoch kein Glück. Nach ein paar Jahrzehnten des Herumirrens im stockdunklen kosmischen Nichts begegnete der winzige Flugkörper einem anderen, weit größerem – einem einsamen Meteoriten. Dieser machte sich nichts aus all den Hoffnungen, welche die Menschheit in die Mission der Sonde setzte, und zerriss sie in Stücke.
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Der Zukunft entgegen

„Du musst zugeben, dass es schön war! Ich habe dich beobachtet: es hat dir gefallen!“
„Es hat mir gefallen, dass es dir gefallen hat! Es ist schön, dich glücklich zu sehen.“
„Du alter Charmeur!“ Lucy beugte sich zu Richard und zwickte ihm spielerisch in die Seite, wohlwissend, wie kitzelig er war.
„Hey, lass das!“ Rief er und versuchte, sich zur Seite wegzudrehen. „Ich muss doch auf die Straße achten! Das geht nicht, wenn du mich ablenkst!“
„Dann sag endlich, dass es ein toller Abend war!“
„Es war toll, mit dir zu tanzen.“
„Richard!“ Sie streckte schon wieder ihre Arme nach ihm aus, doch er wehrte vorher ab. „Okay, dieser Abend war nicht so schrecklich wie ich erwartet hatte. Zufrieden?“ Lucy zog eine Augenbraue hoch. „Naja, zufrieden nicht wirklich. Zwischen „ein schöner Abend“ und „nicht so schrecklich“ liegen schließlich Welten. Aber wahrscheinlich ist es alles, was ich aus dir herauskriegen werden.“ „Ganz genau!“ Bekräftigte Richard mit einem Kopfnicken und grinste fröhlich vor sich hin.
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Gen Osten

Als ich vor der Haustür stand war ich mir schon unschlüssig, in welche Richtung ich überhaupt laufen sollte. Leise Panik stieg in mir auf. Noch konnte ich jederzeit umkehren. Mein Leben als Einsiedlerin in meiner neuen 20 m2 Mietswohnung fristen. Das Essen würde ich mir liefern lassen, so müsste ich nie mehr einen Fuß vor die Tür setzen. Dank der modernen Technik war das ohne weiteres möglich! Ich schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! Mit der Einstellung hätte ich genauso gut daheim bleiben können. Wer aber unabhängig sein will, muss auch mal den Schritt von der Klein- in die Großstadt wagen! Ich würde doch nicht schon klein beigeben, nur weil ich den Weg zu einem Einkaufsgeschäft nicht fand!
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