Zwei Leben

Aus deinem Fenster siehst du ihn dort unten stehen, bei Nacht, im strömenden Regen, nur spärlich geschützt durch einen Hauseingang.  Er regt sich nicht, starrt einfach vor sich hin, und das Wasser perlt an seiner Lederjacke ab und findet einen Weg in die durchnässte Jeans. Er nimmt es nicht einmal zur Kenntnis.

„Warum steht dieser Kerl denn da im Hauseingang?“, denkst du. Doch du wirst sein Geheimnis nicht ergründen. Du beobachtest ihn weiter aus deinem Wohnzimmer heraus, ein Bücherschrank darin, eine Kommode, die Sitzecke mit Fernseher. Geschmackvoll und gemütlich eingerichtet. Und vor allem warm.

Der junge Mann sieht kurz zu dir herauf und macht sich auf den Weg in Richtung Brücke. Im Fernsehen kommen jetzt die Nachrichten. Du wendest dich von Fenster ab und hast den jungen Mann schon kurz darauf vergessen.

Straßenlaternen, Scheinwerfer, Ampelleuchten. Ver­schwommen hinter Regentropfen, hinter den Tränen, die niemand sieht. „Ich lebe noch“, denkt der junge Mann. Er spürt die Kälte, er spürt den Regen und es macht ihn glück­lich, denn der einzige Grund für den Spaziergang in dieser Nacht, bei diesem Wetter, ist der Wunsch, zu spüren. Um sich selbst zu beweisen, dass er noch lebt.

An Tagen wie diesen geht er gern hinaus, um gegen die Leere zu kämpfen, die sich in seinem Innern breit macht. Er will nicht abstumpfen. Will nicht gleichgültig werden gegen­über den immer schlechten Nachrichten, will sich nicht ein­igeln aus Angst vor Verletzungen, will Gefühle zulassen können. Er fühlt den Regen und die Kälte. Das hier ist echt. Das ist die Wirklichkeit, das ist keine vorgegaukelte Schein­welt, das ist nichts, was ein anderer kaputtmachen könnte. Regen und Kälte. Unverfälscht.

Er erreicht die Brücke über den Fluss. Um diese Zeit sind keine Schiffe unterwegs und dennoch bemerkt er den leichten Ölgeruch, der sich mit dem Duft des Flusses mischt. Men­schenmachwerk. Dieser Duft hat nichts Natürliches mehr. Dies ist kein guter Ort.

Er zieht weiter. Die Beine zittern schon vor Kälte, doch es macht ihn glücklich. So soll es sein. Weiter, weiter, nur hier raus, am Ufer des Flusses entlang bis in den Wald. Das erste Laub ist schon gefallen. Er atmet ein. Waldgeruch, ein wenig  Torf vielleicht und leichte Fäulnis vom Laub und dem Regen der vergangenen Tage. Das ist gut. Er streift nun durch das Unterholz, stolpert, fällt, und fühlt sich plötzlich so verbun­den mit dem Boden, dass er verharrt, ganz still, ohne den Wunsch, aufzustehen. Das hier ist Leben wie es sein sollte. Die Erde fühlen, den Wald, den Regen. Die Kälte, die nun auch in seinen Oberkörper kriecht.

Das hier ist Leben. Nicht der Alltag, nicht seine Wohnung, schon gar nicht andere Menschen. All das macht ihn nur leer. Aber diesen Wald hier kann man fühlen. Hier ist alles echt, nicht künstlich, nicht verlogen, nicht verletzend. Hier kann er alles aufsaugen, ohne selbst ausgesaugt zu werden. Er lächelt. Und mit diesem Lächeln schläft er ein.

Drei Tage später liest Du in der Zeitung von einem jungen Mann, der im Wald an Unterkühlung starb. Und dass die Arbeitslosenzahlen sinken. Und von 14 Toten gestern im Irak. Irgendein Promi hat sich liften lassen. Der nächste seine Scheidung eingereicht. Der Aktienkurs blieb gestern mal sta­bil.

Du liest es in der Sitzecke vor dem Fernseher. Hast Dich geschmackvoll und gemütlich eingerichtet. Und Deine Woh­nung ist vor allem warm.

Du musst eingeloggt sein, um zu kommentieren.