Kims Mutter (1)
Das polternde Geräusch aus der Wohnung über ihr ließ Gitta aus dem Schlaf hochschrecken. Schreie waren zu hören, in unbändiger Wut ausgestoßene Wortfetzen. Sie stritten sich wieder. „Kim!“ Gitta stand auf und öffnete ihre Wohnungstür, doch Kim war nicht da. Gitta hoffte inständig, dass sie kommen würde und nicht wieder mit angstverzerrtem Gesicht und tränenüberströmt allein in ihrem Bett säße, die streitenden Eltern nebenan im Wohnzimmer.
‚Komm zu mir, Kim!’ Es war nur ein kurzer Weg vom Kinderzimmer zur Wohnungstür, doch er führte am Wohnzimmer vorbei und wenn ihre Eltern sie entdeckten, würde alles noch viel schlimmer. In den letzten Monaten hatte es Kim ein paar Mal geschafft, sich hinauszuschleichen und bei Gitta Schutz zu suchen. Doch heute kam sie nicht. Die Schreie wurden noch lauter. Gleich würde Frau Schneider die Polizei anrufen, wie jedes Mal. Die Beamten würden um Ruhe bitten und wieder abrücken. Mit etwas Glück bliebe es dabei. Doch es hatte auch schon Nächte gegeben, in denen sich dieses Szenario mehrfach wiederholte, bis die Beamten Kims Mutter mitnahmen und sie erst am nächsten Morgen zurückkehrte.
Gitta dachte über die Monate nach, die seit ihrem Einzug vergangen waren. Bei der kleinen Einweihungsfeier hatte sie Kims Eltern als nette Leute kennen gelernt; der Vater arbeitete als Kaufmann bei einer Entsorgungsfirma, die Mutter kümmerte sich um die 12-jährige Kim und half stundenweise in der Bäckerei nebenan aus. Beide machten auf den ersten Blick einen charmanten Eindruck. Auch Frau Schneider war sympathisch. Sie lud Gitta regelmäßig auf ein Stück Kuchen ein, „damit wir zwei einsamen Weiber ein wenig Gesellschaft haben“, wie sie mit einem zwinkernden Auge zu sagen pflegte.
Zwei Wochen nach der Einweihungsfeier fiel dieses scheinbar so harmonische Kartenhaus in sich zusammen, als Gitta erkennen musste, dass sie einen weiteren Mitbewohner hatten: Alkohol. Er war es, der das Leben hier für die Erwachsenen zur Qual und für Kim zur Hölle machte.
„Sie trinkt seit vier Jahren und es wird immer schlimmer mit ihr“, hatte Frau Schneider gesagt, als Gitta sie am Tag nach der ersten streitunterbrochenen Nacht angesprochen hatte. „Ich hab’ ihre Mutter noch gekannt, die hat sich zu Tode gesoffen. Ich dachte immer, sie selbst würde es schaffen, die Finger von dem Zeug zu lassen, wo sie doch weiß, wie so etwas endet. Aber jetzt trinkt sie auch und das arme Kind macht dasselbe durch, wie sie damals. Und ihr Mann kommt auch nicht dagegen an.“
„Aber da muss man doch etwas tun können, zumindest für das Kind.“
„Nein, da können Sie gar nichts tun. Wenn sie nicht von allein damit aufhören möchte, haben alle anderen keine Chance. Das ist traurig, aber das ist so.“
„Man kann immer etwas tun!“, hatte Gitta im Brustton der Überzeugung gesagt, ohne in diesem Moment zu ahnen, wie viel Macht ihr ungeliebter Mitbewohner in Wirklichkeit hatte.
(Fortsetzung folgt)
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Bildquelle: Rike / Pixelio
Fritzi
26. Dez 2009
Seltsam. Wir hatten den gleichen Gedanken: in diesen Feier-Tagen etwas einzustellen, was die Kehrseite beleuchtet … da denk ich mir doch Mal: „Schön, Songline begegnet zu sein!“ – und bin gespannt auf die Fortsetzung.