Carlo erzählt … von Sizilien

Reisegeschichten für Marie

Wie an jedem Tag saß Carlo in der kleinen Trattoria. Von seinem Platz am Fenster aus konnte er alles überblicken und einen kurzen Moment lang beobachtete er die Menschen, die draußen vorübergingen, scheinbar ziellos manche, aber die meisten mit gehetztem Blick, so als gelte es, in der kommenden halben Stunde die Aufgaben eines ganzen Tages zu bewältigen.

Carlo wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Er liebte diese Stunden am frühen Nachmittag, wenn die Mittagsgäste schon gegangen waren, Matteo, der Wirt, die Tische für den Abend neu eindeckte und er selbst bei einem Glas Wein Ruhe fand, um die Zeitung zu lesen. Doch heute war noch jemand in der Trattoria. Ein Mädchen saß an einem Tisch und malte. Und rutschte dabei ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her, so als würde sie auf etwas warten.

Kaum hatte Matteo den Raum verlassen, sprang sie auf, setzte sich zu Carlo an den Tisch und sah ihn an. Carlo ließ die Zeitung sinken und versuchte, diesem Blick standzuhalten, diesem typischen Kinderblick, der die Erwachsenen durchdringt und alle Fragen stellt, die kein Mensch je beantworten kann. Carlo kannte diesen Blick von seinen Kindern, doch die waren längst erwachsen. Er war etwas unsicher und wollte schon die Zeitung wieder aufnehmen, als das Mädchen die Frage stellte, die ihr offenkundig auf der Seele lag: „Duhu, welches ist das schönste Land der Welt?“

Carlo war so erstaunt über diese Frage, dass er nicht sofort antworten konnte. Also fuhr das Mädchen fort: „Kevin sagt, Deutschland ist am schönsten und Lina behauptet, Polen ist es und Gülnur sagt, die Türkei. Und Opa hat gesagt, dass Du schon auf der ganzen Welt warst, also musst Du das doch wissen.“ In diesem Moment kam Matteo zurück. „Marie, komm, lass den Herrn in Ruhe seine Zeitung lesen!“ „Nein, nein, ist schon gut, wir unterhalten uns ein wenig.“ Carlo wunderte sich selbst darüber, wie wichtig ihm die Frage dieses Kindes war.

„Weißt Du, eigentlich gibt es kein schönstes Land auf der ganzen Welt. Denn alle Länder sind schön. Jedes Land ist anders und jedes Land hat etwas, was ein anderes Land nicht hat.“ „Aber Mama sagt, in Sizilien, wo sie geboren wurde, scheint fast immer die Sonne und darum ist Sizilien schöner als Deutschland. Aber Papa sagt, Deutschland ist auch schön, auch wenn nicht so oft die Sonne scheint. Findet man immer das Land am schönsten, wo man geboren wurde?“

„Nein, nicht unbedingt, es gibt auch Leute, die finden ein anderes Land schöner als ihr Geburtsland.“ „Aber ich nicht, ich bin ja hier in Deutschland geboren, wie der Papa, und finde es hier auch schön. Aber weil der Mama Sizilien so gut gefällt, male ich jetzt ein Bild für sie von Sizilien.“ „Warst Du denn schon einmal in Sizilien?“ „Nein, aber ich male die Sonne, blauen Himmel, einen Strand und das Meer. So sieht es nämlich in Sizilien aus.“ Carlo wollte Marie keinesfalls beleidigen, also schwieg er einen Moment. „Was ist, habe ich nicht Recht?“

„Doch, doch, so sieht es am Strand von Sizilien aus. Aber in Sizilien gibt es ja noch viel mehr als den Strand. Ich könnte Dir ein paar Fotos zeigen, wenn Du magst, aber die habe ich jetzt nicht dabei.“ „Na, Du kannst mir das doch auch erzählen!“ Carlo wurde wieder unsicher. „Was möchtest Du denn wissen?“ „Du hast doch eben gesagt, dass jedes Land etwas hat, was ein anderes Land nicht hat. Was hat denn Sizilien, was es sonst nirgendwo gibt?“

Carlo dachte kurz nach. „Mosaike“, sagte er, wunderschöne Mosaike.“ „Duhu, was sind Mosaike?“, fragte Marie. „Also Marie, Du hast doch bestimmt ein Puzzle zu Hause.“ „Ja, ich kann sogar schon ein Puzzle mit 100 Teilen ganz alleine machen!“ „Siehst Du, und ein Mosaik ist ein riesiges Puzzle. Aus kleinen, viereckigen Steinchen. Und in Sizilien gibt es das größte zusammenhängende Mosaik der Welt. Es ist in einer Kirche in Monreale. Die ganzen Kirchenwände sind mit dem Mosaik geschmückt. Der Hintergrund besteht aus goldenen Steinchen und darin sind Bilder, die Geschichten aus der Bibel erzählen. Diese Bilder sind aus bunten Steinchen zusammengesetzt.“

Sizilien Kreuzgang Monreale„Boah, wenn der Hintergrund aus Gold ist, glänzt das doch sicher ganz doll!“ „Ja, Marie, es glänzt wunderschön, wenn das Licht durch die Fenster auf das Mosaik fällt. Und stell Dir vor, sogar die Säulen im Kreuzgang dieser Kirche hat man mit Mosaiksteinchen verziert.“ „Was ist denn ein Kreuzgang?“ „Das ist ein viereckiger Garten direkt an der Kirche. Rund um den Garten führt ein überdachter Weg, wobei das Dach von Säulen getragen wird, die zwischen dem Weg und dem Garten sind. In einem Kreuzgang ist es sehr ruhig, man hört keinen Straßenlärm, nur das Zwitschern der Vögel. Und darum kann man in einem Kreuzgang gut nachdenken. Und eigentlich ist jeder Kreuzgang schön, aber der von Monreale ist für mich der schönste auf der Welt.“

Sizilien Bikini-Mädchen„Haben denn die Leute in Sizilien immer schon gerne solche Mosaike gemacht?“ „Ja, die ältesten Mosaike auf Sizilien sind fast 2000 Jahre alt. Die wurden von den Römern angelegt, als Fußboden für ein Landhaus.“ „Wie, als Fußboden, sind die Römer über die schönen Bilder einfach drübergelaufen?“ „Ja, das haben sie gemacht. Und da sind tolle Bilder auf dem Boden, von wilden Tieren, von der Jagd, von verschiedenen Göttern, an die die Römer glaubten. Und stell´ Dir vor, auf einem der Bilder sind sogar Frauen im Bikini zu sehen, und nun behaupten die Menschen von heute, sie hätten den Bikini erst vor ein paar Jahrzehnten erfunden. Dabei gab es den vor fast 2000 Jahren schon.“

Sizilien Schwefelkristalle Vulcano„Meine Mama hat erzählt, dass es auf Sizilien auch einen Vulkan gibt.“ „Ja, auf Sizilien gibt es den Ätna, aber der ist eigentlich nicht so sehr interessant, weil man nicht bis zu seinem Krater hinaufklettern kann. Aus dem Ätna kommt ja immer wieder heiße Lava und da ist es zu gefährlich, dort hinaufzuklettern. Aber man kann mit einem Boot zur Insel Vulcano fahren, die vor Sizilien liegt, und dort ist ein Vulkan, auf den man hinaufklettern kann. Und das ist total interessant. Aus diesem Vulkan kommen nämlich Schwefeldämpfe, das stinkt ganz fürchterlich. Aber es bilden sich auch wunderschöne Schwefelkristalle, die sind ganz gelb und sehen total hübsch aus. Und aus dem Krater des Vulkans steigen immer Dampfwolken empor, woran man erkennen kann, dass auch dieser Vulkan noch aktiv ist. Und man hat von oben einen wunderbaren Blick über das Meer.“

„Duhu, ich glaube, Sizilien würde mir auch gefallen.“ „Ja, Marie, und dabei gäbe es noch viel mehr, was ich Dir erzählen könnte, von dem Theater in Taormina, vom Ohr des Dionysos, der Kacheltreppe von Caltagirone und den Tempeln von Agrigent. Und wie es riecht, auf Sizilien, nach Meer, Zitronen und Oleander. Aber vielleicht lässt Du Dir das mal von Deiner Mutter erzählen.“ „Das mache ich. Und ich male jetzt noch ein neues Bild, ein Vulkan-Mosaik-Bild und auf den Vulkan gehen wilde Tiere hoch und die Bikini-Mädchen gucken ihnen dabei zu.“ „Mach das, Marie, da wird sich die Mama sicher freuen.“

„Duhu, ich bin jetzt jeden Dienstag hier. Meinst Du, Du kannst mir auch von anderen Ländern Geschichten erzählen?“ Carlo lächelte. „Mal sehen“, wollte er sagen, doch dann sah er Maries erwartungsfrohe Augen. „Na ja, von ein paar Ländern kann ich Dir ja noch erzählen, wenn Du magst.“ Sichtbar zufrieden rutschte Marie von ihrem Stuhl. „Na dann bis nächste Woche“, sagte sie, lachte ihn an und lief dann zu ihrem Tisch, um ein neues Bild von Sizilien zu malen.

  • Das … ist DAS Bild von Sizilien.
    Aber SIZILIEN ist DAS nicht.

  • Sorry, Song, falls der knappe Kommentar etwas krass daher kam – es ist eine hübsche Geschichte – und es hat mit ihr auch rein gar nichts zu tun, dass sich mir spontan die Nackenhaare sträubten. – „Warum?“ also?

    Nun, es werden genau die Dinge angesprochen, die sich auch der „Sizilianische Verein zur Förderung des Tourismus“ seit Beginn des neuen Jahrtausends auf die Fahne geschrieben hat und in die Werbebroschüren schreibt. – Die wirklich schönen, faszinierenden, da ursprünglichen, noch ahnbaren Seiten, wie auch die bitteren sozialen und gesellschaftlichen Schattenseiten der Insel bleiben von diesen Beschreibungen jedoch peinlichst unberührt – und das, meiner Ansicht nach, nicht von Ungefähr …
    Diese (ziemlich plötzlich sehr massiv eintretende) Ankurbelung des Tourismus soll (inselpolitisch gesehen) langfristig vor allem drei Dingen dienen:
    1. das generell verbreitete, populäre Bedürfnis, die „bella figura“ aufrecht zu erhalten (und sogar noch schöner zu gestalten), zu befriedigen.
    (Freie Übersetzung von „bella figura“: „Alles IST gut – und wie´s hinter der Fassade aussieht, das geht niemanden was an“)
    2. Dies wiederum dient dazu, den „Rechtschaffenden“ einen baldigen Aufschwung vorzugaukeln, sie damit arbeitstechnisch bei der Stange zu halten – und sie hoffnungsfroh zum Konsum, somit zur „Investition“, somit zum Weiterdrehen des Rädchens zu bewegen.
    (Ich nenne das eine gekonnte Umsetzung des alten Prinzips „Brot und Spiele“)
    3. findet natürlich eine scheinbare, da vor allem finanzielle Besserung der Umstände statt … aber während die Brotkauenden und Spieleguckenden sich über die peanuts freuen, sahnen die Fädenzieher in alter Manier ab … womit sich auch der auf Sizilien von einer gewissen Upperclass (immer noch!) höchst gern zitierte Satz aus dem Roman „Der Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa erklärt: „Wenn wir wollen, daß alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, daß sich alles verändert.“

    Ich habe meine Feriengäste damals immer auch gerne auf einen Tagesausflug nach Termini Imerese geschickt, denn dort gab es ein für Sizilien ebenso typisches „Baudenkmal“ zu bewundern, wie es die Tempel, die Kathedralen und Mosaike zweifellos sind: im Zuge einer kurzzeitigen Staatsreform zur „Industriellen Entwicklungshilfe für Süditalien“ sollte dort (vor ca.15 Jahren) ein Industriegebiet entstehen … und das genau in der kilometerlangen Bucht vor der weitschweifigen Umarmung durch die Madonie-Berge.
    Durch üppige Zuschüsse sollten die Firmen aus dem Norden angeregt werden, auf der Insel Zweigniederlassungen zu gründen. – Im Eilverfahren wurde begonnen, Fabrikgebäude aus dem Boden zu stampfen – und sobald der Bau begonnen hatte, konnten die Förderungsanträge gestellt werden …
    Die Anträge wurden mit Freude bewilligt. Neue Maschinen, Inventar, etc. wurde von den Unternehmern angeschafft … und stante pede flugs in den Norden transportiert.
    Was blieb für Sizilien? – Ein einstmals traumhaft schönes Küstenstück, auf dem nun halbfertige Fabrikgebäude jahrelang vor sich hin gammelten und rosteten …

    Ich bin versucht, zu schreiben: „Reisender, kommst du nach Termini Imerese …“ – dann verweile, schau dir dieses Spektakel an – und weine.

  • ich finde die geschichte wunderschön und sehe das romantische sizilien vor mir.

    fritzi du darfst nicht vergessen, dies ist für ein kind geschrieben und erst der anfang …

    der dialog ist im fließtext ein wenig unübersichtlich. aber insgesamt sehe ich die beiden dort sitzen und reden und carlos zeitung vernachlässigt auf dem tisch liegen 🙂

    • Das „romantische Sizilien“ … wie sollen Kinder – z.B. als Aupair – sich in anderen Ländern behaupten, wenn sie nur mit zuckersüß-watteschaumig-scheinbar kindergerechter Heile-Welt-Schonkost genährt werden?

  • Fritzi, ich stelle es mir so vor, dass Carlo von mehreren Ländern erzählt. Sozusagen Erdkunde kindgerecht verpackt. Ich möchte die beiden nach Ägypten schicken, nach Australien, in die USA, nach Irland und in weitere Länder. Das Ziel ist, wie im ersten Kapitel schon beschrieben, zu vermitteln, dass jedes Land seine ganz eigenen Reize hat. Natürlich ist das jeweils die Sicht, die sich auch in Tourismuswerbeprospekten findet. Aber für die Zielgruppe, für die es geschrieben ist, finde ich das in Ordnung.
    Das Buch für die Erwachsenen würde ich niemals schreiben, es sei denn, Du würdest mein Ghostwriter 😉

  • genau andrea – für kinder ist das super. ich finde, das sollte kinder auch neugierig machen, damit sie als jugendliche lust kriegen, die welt kennenzulernen (au pair und so) …

    • Es gab „Mogli“-Kinder – und die haben überlebt. So etliches.
      Ein Kind liebend zu begleiten heisst für mich nicht, es von allem Unbill der Realität zu distanzieren, sondern vielmehr, es in haltendem Ambiente auf das höchst unromantische Alltagsleben vorzubereiten.

  • Song – ich schrieb dir: „es ist eine hübsche Geschichte – und es hat mit ihr auch rein gar nichts zu tun, dass sich mir spontan die Nackenhaare sträubten“ …

  • komisch ich kann auf der hauptseite einen kommentar von fritzi lesen der hier gar nicht steht …

    fritzi – aber bekommt ein kind lust auf reisen, wenn man ihm die schattenseiten vorrangig zeigt? letztendlich geht es doch auch um ein ausgewogenes und kindgerechtes vermitteln von informationen. man schleppt ein 6 jähriges kind ja auch nicht mit zu einer beerdigung um zu zeigen, dass sterben zum leben dazu gehört …

  • Ich danke Euch für die interessante Diskussion im Vorfeld. Ich bin sicher niemand, der Kinder in Watte einpackt. Und werde einen Weg finden, auch kindgerecht auf Dinge hinzuweisen, die unter der Prospekt-Oberfläche liegen.

    Hule, zum Thema Beerdigung: Doch, in unserer Familie gehen auch Kleinkinder selbstverständlich mit zu einer Beerdigung. Sie werden nicht geschleppt, sondern nehmen als Teil der Familie daran teil. Was mitunter zu lustigen Szenen führt. Meine Jüngste stellt auf der Beerdigung meines Großvaters, als wir von der Kirche durchs Dorf zum Friedhof zogen und dabei den Rosenkranz betete, lautstark fest: „Oma, das ist ja doof, die beten ja immer dasselbe!“

  • Zuerst zum Handwerk
    Die Art des Aufbaus und Idee mit dem Carlo finde ich gelungen. Auch der Erzählstil macht Lust auf mehr.

    Zum Inhalt: Ich denke, auch für Kinder sollte ein reales, aber auch für sie verständliches Bild gezeichnet werden. Bei Sizilien sollte man beide Gesichter zeigen und das dürfte gehen.
    Ich möchte keinem Kind ein reales Bild von Israel zeigen müssen.

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