Worte im Wind
Es wurde Zeit. Die Kirchturmuhr hatte schon längst 8 Uhr geschlagen und Maria packte ihre Sachen zusammen. Belegtes Brot, einen Apfel, die Thermoskanne Tee, die immer gleichen Dinge, wie jeden Tag. Sorgfältig schloss sie die Haustür ab und machte sich auf den Weg durchs Dorf, an den sturmerprobten Häusern vorbei zum Strand, dort auf die kleine Seebrücke zu, an der im Sommer die Ausflugsboote anlegten. Doch nun war die Saison vorbei. Sie würde allein sein um diese Zeit, da die Sonne den Weg über den Horizont noch nicht gefunden hatte. Es sei denn, der Junge war da.
Der Junge war vor ein paar Tagen auf die Seebrücke gekommen, kurz bevor Maria den Heimweg antrat. Ein seltsamer kleiner Kerl. Blass war er und sicher vermochte die Sonne selbst im Sommer seine Haut nicht zu bräunen. An seinem dürren Leib schlotterte eine viel zu weite Hose, notdürftig mit einem Gürtel gehalten. Doch seine Augen waren voller Offenheit gewesen, als er auf sie zugekommen war.
Ein kurzes Stück noch, dann konnte sie sie sehen. Die Seebrücke lag im leicht aufschäumenden Meer. Und im ersten Licht des Tages erkannte sie die Kontur des Jungen. Was nun? Sonst war sie stets allein, und das war, was sie wollte. Das war der Grund, noch vor der Morgendämmerung zur Seebrücke zu gehen. Maria zögerte nur kurz und nahm dann den gewohnten Weg. Als sie bald darauf ihre Tasche auf die Bank stellte und sich setzte, hörte sie den Jungen zaghaft etwas fragen.
„Erzählst Du mir von Magic?“ Sie sah seinen erwartungsvollen Blick. Magic. Woher wusste er davon? Das Meer könnte es wissen, die Möwen, die über ihnen kreisten, die Fische, die bisweilen vorbeizogen. Ihnen hatte sie die Geschichte von Magic erzählt, und so viele andere. Jeden Tag eine neue Geschichte. Jeden Tag eine Erinnerung, die sie dem Meer übergab und dem Wind, der sie forttrug. Niemals hatte sie eine Geschichte ein zweites Mal erzählt. Meer und Wind nahmen ihre Worte und Maria wusste sie gut geborgen in ihnen.
Magics Geschichte erneut zu erzählen, hieße, sie dem Meer und dem Wind wieder zu entreißen und sie dem Jungen zu schenken.
„Woher weißt Du vom ihm?“
Der Junge antwortete etwas ängstlich. „Ich habe gehört, wie Du sie erzählt hast, an dem Tag, bevor Du mich hier getroffen hast. Aber da war sie schon fast vorbei.“
„Du hast mich belauscht?“
Der Junge errötete.
Magic. Die Geschichte gehörte schon dem Meer und dem Wind. Doch diese bewahrten bereits so viele Geschichten. Es würde nicht schaden, sie erneut zu erzählen, vielleicht ein wenig abgewandelt, kindgemäßer für den Jungen, und doch so, wie es geschehen war.
„Nun gut“, sagte Maria, „aber dies wird die einzige Geschichte, die ich ein zweites Mal erzähle. Und ich tue es deshalb, weil eine Geschichte einen Anfang braucht und ein Ende, und der Mensch nicht glücklich wird, wenn er nur das eine oder das andere kennt. Ich schenke Dir die ganze Geschichte – Dir, dem Meer und dem Wind.“
Maria räusperte sich. Es war lange her, dass die Geschichte geschehen war, und bisweilen gab ihr Gedächtnis die Einzelheiten nicht mehr preis. Doch vieles war nicht wichtig. Wichtig war nur der Augenblick, der die Geschichte spann. Wichtig war die Stimmung, die sie bis jetzt im Herzen trug, seit dem Moment, der bedeutend genug war, die Zeit zu überdauern.
„Magst Du Basketball?“ wollte sie von dem Jungen wissen.
„Nicht besonders. Ich mag überhaupt Sport nicht besonders.“
„Nun, vielleicht wird Dir die Geschichte dennoch gefallen, obwohl es eine Basketballgeschichte ist. Magic war nämlich Basketballspieler. Und sein wirklicher Name ist natürlich nicht Magic, sondern Earvin Johnson Jr., aber alle nannten ihn Magic Johnson. Der Sportreporter Frank Stabley hatte ihm diesen Spitznamen verliehen, weil er einfach grandios spielte. Er war ein Meister darin, seinen Mitspielern den Ball zuzupassen, ohne sie dabei anzusehen.
Weißt Du, es gibt Momente, die überdauern eine Ewigkeit. Weil sie etwas Besonderes sind. Und ich habe einen solchen Moment erlebt, beim Spiel der Los Angeles Lakers gegen die Denver Nuggets, 1987. Die Lakers, Magic Johnsons Mannschaft, waren sehr erfolgreich in den achtziger Jahren und holten 1987 auch zum wiederholten Male den Meistertitel. Aber das ist nicht wichtig. Nicht wirklich.
Am 23. April 1987 spielten die Lakers also gegen die Nuggets. Warst Du schon mal bei einem Spiel? Einem richtig großen Spiel? Die Lakers spielten im Forum im Los Angeles. Das ist eine riesige Halle, in der mehr als 17.000 Zuschauer Platz haben. Kannst Du Dir das vorstellen? 17.000 Menschen strömten ins Forum, um die Lakers spielen zu sehen. Sie kauften im Foyer Popcorn und Cola, vielleicht ein Lakers Shirt als Souvenir, und dann gingen sie in die Halle und warteten auf den Auftritt der Stars.
Das Spiel begann. Die Lakers hatten die Nuggets von Anfang an gut unter Kontrolle und führten mit beruhigendem Vorsprung. Fast wurde es schon ein wenig langweilig. Die Lakers würden gewinnen, das war klar, jetzt ging es nur noch um den Punkteabstand.
Dann griffen die Nuggets an. Alle Spieler befanden sich unter dem Korb der Lakers und es gab einen ziemlichen Kampf um den Ball. Magic Johnson hat ihn schließlich errungen und stand damit schräg rechts unter dem eigenen Korb, während alle anderen zum Korb der Nuggets liefen. Dann kam der Wurf. Magic Johnson warf den Ball in die gegnerische Hälfte, doch er war zu lang, viel zu lang, keiner der anderen konnte ihn fangen, denn sie waren gerade erst über die Mittellinie gekommen. Der Ball wurde länger und länger – verflixt, wo sollte dieser Pass hingehen, da stand doch niemand – und dann senkte sich der Ball in den Korb der Nuggets.
Für den Bruchteil einer Sekunde war es totenstill. 17.000 Zuschauer, die Spieler und Betreuer, die Cheerleader und Schiedsrichter, brauchten einen Moment, um zu begreifen, was geschehen war. Magic Johnson hatte den Ball aus einer Entfernung von 27 Metern im Korb des Gegners versenkt. Tosender Applaus brandete auf, als die Menge das endlich realisierte. Das Publikum erhob sich von den Sitzen und selbst die gegnerische Mannschaft zollte diesem Wurf Respekt. Keine Spur mehr von Langeweile, kein Abschätzen, wie wohl das Spiel ausgehen würde. Alle sprachen nur noch von diesem Treffer. Und von Magic Johnson.“
Es hatte zu regnen begonnen, als Maria die Geschichte beendete. Die Regentropfen perlten über ihr Gesicht und sie hoffte, dass der Junge ihre Tränen nicht bemerkte. Doch er hatte ihre Traurigkeit längst gespürt und das Zittern in ihrer Stimme, so sehr sie sich auch bemüht hatte, es zu verbergen.
„Maria?“ Er wusste ihre Namen. Sicher redeten sie im Dorf über sie, die seltsame Frau, die vor ein paar Monaten hergezogen war und jeden Morgen vor Sonnenaufgang zur Seebrücke ging. Sicher erzählten sie den Kindern, sie sollten sich in Acht nehmen vor ihr, denn sie sei nicht normal.
„Ja, Junge?“
„Warum macht Dich die Geschichte traurig, es ist doch eine sehr schöne Geschichte?“
Wie sollte sie dem Jungen das erklären? Wie sollte sie ihm sagen, dass es eine besondere Geschichte war, von der sie sich immer gewünscht hatte, dass ein besonderer Mensch sie bitten würde, sie zu erzählen. Heute hatte der Junge sie danach gefragt. Er war nicht derjenige, von dem sie es sich gewünscht hatte, doch er war der, der ihr aufmerksam gelauscht hatte.
„Ich bin nicht traurig, Junge. Ich bin glücklich, weil Du dieser Geschichte einen Sinn gegeben hast. Durch Dein Zuhören.“
Und mit diesen Worten packte Maria ihre Sachen und ging heim.
Der Junge kam auch am nächsten Morgen.
„Maria?“
„Ja?“
„Du sitzt hier jeden Tag, nicht wahr? Du bist hier und erzählst dem Meer Geschichten, jeden Morgen.“
„Ja.“
„Hast Du keine Freunde, denen Du Deine Geschichten erzählen kannst?“
Was sollte sie sagen? Sie hielt einen Augenblick inne und viele Gesichter tauchten aus ihrer Erinnerung auf.
„Ich hatte Freunde“, sagte sie schließlich, „aber ich habe ihnen meine Geschichten nicht erzählt.“
„Warum denn nicht?“
„Weißt Du, die Menschen sind sehr mit sich selbst beschäftigt. Und sie erzählen von allen Dingen, die sie bewegen. Auch meine Freunde haben das getan. Sie haben mir immer sehr viel erzählt. Ich war der Zuhörer. Es ist schwer, einen Zuhörer zu finden, weißt Du, aber ich konnte sehr gut zuhören. Irgendwann wollte ich selbst etwas erzählen. Doch als ich anfing, merkte ich, dass meine Freunde keine Zuhörer waren. Also habe ich mir neue Freunde gesucht.“
„Und wer sind Deine Freunde?“
„Das Meer und der Wind sind meine Freunde und alle Tiere des Meeres und des Windes. Siehst Du die Möwen? Sie rufen nach mir, dass ich mein Brot mit ihnen teile und die Fische gleich hier unter der Brücke schnappen dankbar nach ein paar Krümeln. Sie bleiben bei mir und sie hören mir zu, wenn ich ihnen etwas erzähle.“
„Aber sie antworten nicht!“
„Manchmal antwortet das Meer und braust auf, manchmal umtost mich der Wind und ist im nächsten Moment still. Sie antworten auf ihre Art und Weise. Wenn ich eine Geschichte erzähle, male ich mir in Gedanken ihre Antwort aus. Sie sind sich oft nicht einig, was sie von der Geschichte halten sollen. Dann zeigt ihr Streit mir meinen Weg.“
„Wie kann man durch Streit seinen Weg finden?“
„Nun ein Streit ist gut. Ein jeder sagt, was er denkt, und wenn zwei gut streiten können, wägt ein jeder die Gedanken des anderen gegen die seinen ab. So lernen sie voneinander.“
„Wenn ich in der Schule streite, ist das nicht schön.“
„Ja, ich weiß. Kinder haben noch nicht gelernt, richtig zu streiten. Wenn Kinder streiten, möchte jeder am Ende der Sieger sein. Aber genau darum geht es bei einem guten Streit nicht.“
„Mmmh. Maria?“
„Ja?“
„Hast Du Deine Geschichten alle erlebt?“
„Die meisten, ja. Ein paar wandele ich etwas ab, damit es spannender wird.“
„Erzählst Du auch erfundene Geschichten? Von Feen und Rittern, Drachen und Kobolden, Schätzen und Piraten?“
„Nein. Die Geschichten der Phantasie gehören den Kindern und nur sie sollten sie erzählen.“
Da kam Maria eine Idee. „Wie wäre es, wenn Du morgen eine Geschichte erzählen würdest? Eine phantastische Geschichte, eine Reise ins Zauberland, das für die Erwachsenen längst verschlossen ist?“
Der Junge starrte sie unsicher an. „Das kann ich nicht!“
„Doch, Du kannst. Alles was Du brauchst, ist ein Anfang, ein erster Satz. Suche einen guten ersten Satz und dann schlüpf hinein in Deine Geschichte, und Du wirst keine Schwierigkeiten haben, sie zu erzählen. Wir sehen uns morgen.“
Maria stand auf und ging heim, ohne sich noch einmal nach dem Jungen umzudrehen, der erschrocken auf der Seebrücke zurückblieb.
Am nächsten Morgen konnte Maria nicht schnell genug ihre Sachen zusammenpacken. Sie nahm auch etwas für den Jungen mit und bangte, ob er denn kommen würde. Doch als sie endlich über den Strand blicken konnte, sah sie ihn auf der Seebrücke sitzen, die Beine von der Brücke herabbaumelnd, den Blick aufs Meer gerichtet.
„Da bist Du ja.“
Der Junge fuhr hoch, denn er hatte sie in dem ablandigen Wind nicht herankommen hören.
„Guten Morgen, Maria.“
„Und – wirst du mir heute eine Geschichte erzählen?“
„Ich weiß nicht. Ich habe noch nie eine Geschichte erzählt.“
„Aber Du hast doch Phantasie! Wo sind sie, Deine Piraten und Elfen?“
„Die Piraten und Elfen sind da, doch es wollte noch nie jemand ihre Geschichte hören.“
„Heute hast Du Zuhörer, mein Freund. Das Meer ist da und der Wind. Das Meer wird Deine Geschichte in die Tiefe tragen und sie bewahren – und der Wind bläst sie durch die Welt, damit sie jemand hört, dem die Geschichten ausgegangen sind. Er wird sie für seine eigene halten und wieder Freude an den Worten finden. Den Worten, die Du ihm mit dem Wind geschenkt hast.“
Der Junge war unsicher. Zu unwirklich kam ihm vor, was Maria sagte. Wie konnte es sein, dass seine Worte jemandem Freude brachten, der am anderen Ende der Welt war? Andererseits – was machte es aus, wenn Maria Unrecht hatte? Wenn das Meer die Worte nicht bewahrte und der Wind sie nicht forttrug, dann blieben sie doch hier, bei Maria und ihm. Maria würde ihm zuhören und das gab seinen Worten einen Sinn.
„Ich weiß keinen Anfang.“
„Wofür bist Du heute in der Stimmung?“
„Was meinst Du?“
„Ist Dir nach Abenteuern oder nach Freundschaft, nach Rittern oder Fabelwesen?“
„Was würdest Du denn nehmen?“
„Junge, Du bist der Geschichtenerzähler. Du musst wissen, in welcher Stimmung Du bist, was jetzt gerade Dein Herz aufwühlt, und das musst Du erzählen. Es wird keine gute Geschichte, wenn Du sie konstruieren musst. Eine Geschichte wird nur gut, wenn Du sie lebst, während Du sie erzählst.“
„Ich sollte die Geschichte eines Geschichtenerzählers erzählen, dem keine Geschichte einfällt!“
Maria fiel in das Lachen des Jungen ein. Und zum ersten Mal, seit sie in dieses Dorf gekommen war, lachte sie mit jemandem, der sie verstand.
„Ich könnte die Geschichte eines kleinen Jungen erzählen, der in ein aufregendes Abenteuer gerät.“
Marias Nicken ermunterte den Jungen, es zu versuchen.
„Also da ist ein Junge, Ben heißt er, und er steckt ziemlich in Schwierigkeiten. Er hat nämlich das Fahrrad von Thomas gestohlen, den er nicht ausstehen kann, weil Thomas ihn in der Schule immer ärgert und stärker ist als er. Aber irgendwann war Thomas im Supermarkt und hatte sein Fahrrad nicht abgeschlossen, da hat Ben es geklaut und ist damit zum Meer gefahren. Im kleinen Wald davor hat er es versteckt. Er wollte es nicht kaputtmachen oder so, er wollte sich nur an Thomas rächen. Aber im Wald war Dornengestrüpp und nun ist der Reifen platt.“
Ein unmerkliches Lächeln huschte über Marias Gesicht. „So, so. Ich dachte, Du wolltest mir eine Phantasiegeschichte erzählen.“
„Das ist eine Phantasiegeschichte! In dem Wald wimmelt es nämlich von Elfen und Trollen. Die Elfen sind nett, aber die Trolle haben von dem Fahrrad die Klingel abmontiert und den Vorderreifen auch und nun kann Ben das Rad nicht mehr zurückbringen.“
„Das ist ja furchtbar! Könnten die Elfen Ben nicht helfen, die Klingel und den Reifen zurück zu bekommen?“
„Nein, denn die Elfen sind viel zu klein. Ben wird wohl eine neue Klingel und einen neuen Reifen kaufen müssen. Aber er will nicht, weil Thomas das nicht verdient hat. Außerdem hat Ben kein Geld.“
„Mmmh. Und wenn Ben nun einen Freund hätte, der in seiner Garage noch ein paar Ersatzteile für ein Fahrrad liegen hat?“
„Das wäre zu einfach, oder? Obwohl, in Geschichten kann immer alles ganz einfach sein, was in Wirklichkeit unendlich schwierig ist. In Wirklichkeit hat so ein Ben nie einen Freund mit einer Ersatzklingel.“
„Wenn Ben mein Freund wäre, hätte ich eine Ersatzklingel“, sagte Maria mit ruhiger Stimme und tat so, als hätte sie die Traurigkeit in den Worten des Jungen nicht gehört.
„WIRKLICH?“ Der Junge war aufgesprungen.
„Ja Ben, und wir beide holen jetzt das Fahrrad und reparieren es zusammen. Danach mag Thomas es zufällig vor dem Supermarkt wiederfinden.“
„Maria?“
„Ja, Ben?“
„Jetzt habe ich Dir gar keine schöne Phantasiegeschichte erzählt.“
„Nein, das hast Du nicht. Aber Du hast die Geschichte erzählt, die in Dir drin war und die raus musste. Du kannst keine Phantasiegeschichten erzählen, solange da noch eine andere Geschichte in Dir drin ist. Jede Geschichte hat ihre Zeit. Heute war die Fahrradgeschichte dran. Und die Phantasiegeschichten erzählst Du, wenn sie soweit sind.“
Als Maria am nächsten Morgen zur Seebrücke kam und der Junge nicht dort war, kam sie sich seltsam allein vor. Sie hatte sich extra eine Geschichte für ihn überlegt, die ihm sicher gefallen würde. Doch sie konnte sie heute nicht erzählen, denn es war eine Geschichte für den Jungen, und keine, die das Meer oder den Wind interessiert hätte. Nachdenklich sah sie den Wellen zu, wie sie auf den Strand liefen und dann unter der nächsten Welle hindurch wieder ins Meer zurückfanden. Ein ewige Kommen und Gehen.
„Maria!“ Ben hatte den Anfang der Seebrücke erreicht und winkte ihr zu. „Ich bin zu spät, hast Du schon eine Geschichte erzählt?“
„Nein, Ben, ich wollte auf Dich warten, denn die heutige Geschichte ist nur für Dich.“
Ben strahlte und sah so neugierig aus, dass Maria sofort mit der Geschichte begann.
„Auf einer Farm lebte ein Junge, der hieß Fred, der war etwa so alt, wie Du. Eines Tages kamen sein Onkel und seine Tante zu Besuch, mit ihrer Tochter Kelly. Kelly war ein hübsches Mädchen und obwohl Fred noch nicht wirklich Augen dafür hatte, wollte er ihr mächtig imponieren. Während sich die Erwachsenen im Haus unterhielten, ging Fred mit Kelly in den Stall und behauptete, er könne auf einem Schwein reiten. Kelly glaubte ihm das natürlich nicht, aber Fred war sich seiner Sache ganz sicher. Er kletterte also in die Schweinebox, setzte sich auf Molly, sein Lieblinsschwein, und wollte gerade schon triumphierend winken, als Molly schnell wie der Wind durch die Box rannte und Fred dabei hinunterfiel. Zu allem Übel fiel er nicht in das frische Stroh, sondern genau dorthin, wo Molly zuvor ihre Hinterlassenschaft abgesetzt hatte.“
„Du meinst, er fiel in die Schweinekacke?“ Ben hielt sich den Bauch vor Lachen.
„Genau. Das war dem armen Fred natürlich überaus peinlich, aber Kelly half dem bedröppelten Kerl aus der Box hinaus und lenkte auch die Erwachsenen ab, damit Fred unbemerkt in die Badewanne flüchten konnte.“
„Gib zu, die Geschichte ist erfunden.“
„Nein Ben, ich schwöre, sie ist wirklich passiert. Ich habe nur die Namen abgeändert.“
Von einem Moment auf den anderen wurde Ben ernst.
„Maria?“
„Ja?“
„Wissen Deine Freunde, dass Du hier bist?“
„Nein.“
„Glaubst Du, sie vermissen Dich?“
„Vielleicht.“
„Du willst nicht drüber reden, oder?“
„Ben, ich nehme an, meine Freunde vermissen die Zuhörerin, die sie sie verloren haben. Aber sie vermissen nicht die Geschichtenerzählerin, die ich jetzt bin.“
Sie schwiegen eine Weile.
„Maria – Ich glaube, Deine Freunde hätten die Geschichten von Magic Johnson und dem Schwein Molly auch gern gehört.“
Diesmal ließ Ben Maria auf der Seebrücke zurück.
Die Worte des Jungen gingen Maria nicht mehr aus dem Kopf. „Deine Freunde hätten die Geschichten von Magic Johnson und dem Schwein Molly auch gern gehört.“ Vielleicht hatte Ben Recht. Aber wenn sie so im Freundeskreis zusammengesessen hatten, war es nie um ihre Geschichten gegangen. Jeder hatte etwas gesagt, die kleinen und großen Ereignisse berichtet, doch ihre eigenen Erlebnisse waren Maria immer zu unwichtig vorgekommen, um sie dann auch noch zu erzählen. Also schwieg sie und hörte den anderen nur zu.
„Sie hätten mich fragen können. Sie hätten mir die Zeit geben können, die ich brauche, um etwas zu erzählen“, ging es ihr durch den Kopf. Aber es hatten sich in so vielen Gesprächen nicht einmal wenige Sekunden der Stille ergeben, in denen Maria ihre Gedanken hätte sammeln und zu einer Geschichte formulieren können. Nein. Es war gut, dass sie gegangen war. Es war gut, die Geschichten dem Meer und dem Wind zu erzählen, die immer für sie da waren. Nur selten hatten die beiden einen schlechten Tag, dann peitschten hohe Wellen an den Strand und der Wind brauste zum Sturm auf.
So wie heute. Heute würde die Seebrücke vergeblich auf sie warten, denn es war zu stürmisch draußen. Was der Junge wohl machte? Gerade, als sie an ihn dachte, hörte sie ein Pochen an der Tür.
„Ben! Komm rein, Du wirst ja klitschnass!“
Ben stolperte über die Türschwelle und fand sich direkt in der Stube des kleinen Hauses wieder. Neugierig sah er sich um. Sein Blick fiel auf das Bücherregal an der Wand, den offenen Kamin und zwei Sofas. Eine Hälfte des Raumes ähnelte eher einer Werkstatt, als einem Wohnraum. Dort befanden sich eine Staffelei mit einem Bild, das offensichtlich noch nicht fertig war, und ein Tisch mit Farben, Pinseln und Lappen.
„Du malst?“
„Nun, ich versuche es zumindest. Ich bin noch nicht sehr gut und fange gerade erst an. Aber es macht mir Spaß. Setz Dich, ich koche uns einen Kakao. Du magst doch Kakao, oder?“
Ben nickte und nahm auf einem der Sofas Platz.
Kurze Zeit später kehrte Maria mit dem Kakao zurück und Ben nahm in dankbar an.
„Gehst Du eigentlich nicht zur Schule?“
„Ich hab Ferien.“
„Und – hast Du keine Freunde, mit denen Du Dich treffen kannst?“ Verunsichert blickte Ben auf. Erst jetzt bemerkte Maria, dass er die Frage als abweisend empfinden könnte. „Also, ich freue mich natürlich, dass Du mich besuchst. Ich habe mir nur gedacht, dass so ein Junge wie Du vielleicht lieber mit seinen Freunden durch die Gegend ziehen würde.“
„Wir wohnen noch nicht so lange hier. Ich habe noch keine Freunde.“ Wieder dieser fragende Blick. Aber dann traute Ben sich doch: „Ich dachte, Du bist meine Freundin.“
„Das bin ich Ben, das bin ich sogar gern.“
„Was machst Du eigentlich?“
„Wovon ich lebe? Nun, ich war Lehrerin für Englisch und Spanisch. Ich habe etwas Geld gespart und mich für ein Jahr beurlauben lassen. Nun mache ich zwischendurch ein paar Übersetzungen.“
„Und Du erzählst Geschichten.“
„Ja.“
„Wirst Du zurückgehen, wenn das Jahr vorbei ist?“
„Ich weiß es nicht. Mit den Übersetzungen verdiene ich zwar nicht viel, aber es könnte reichen, um zu bleiben. Ich habe auch noch ein paar andere Ideen.“
„Welche denn?“
„Ich könnte ein Buch schreiben. Ein Kinderbuch. Ich weiß zwar nicht, ob man damit Geld verdienen kann, aber das würde mir Spaß machen.“
„Mit Harry Potter hat die Frau ganz viel Geld verdient!“
„Joanne Rowling, ja, sie hat sehr viel Geld verdient. Aber so gut wie sie schreibe ich noch lange nicht.“
„Aber wenn Du hier bleibst, hast Du keine Freunde außer mir. Und ich bin bestimmt auch bald wieder weg, wir ziehen andauernd um. Wir wohnen im Wohnwagenpark hinten am Highway.“
„Du möchtest unbedingt, dass ich Freunde habe, nicht wahr? Aber ich bin eigentlich im Moment ganz froh, so mit mir allein.“
„Hast Du keine Kinder?“
„Nein, ich habe nämlich den passenden Vater dafür noch nicht gefunden.“
„Maria?“
„Ja Ben?“
„Magst Du mich als Freund?“
„Natürlich mag ich Dich als Freund.“
„Aber Du bist groß und ich bin klein, Du bist reich und wir haben wenig Geld.“
Maria lachte. „Nun, wirklich reich bin ich nicht, doch ich komme über die Runden. Aber merk Dir was, denn das ist wichtig: Freundschaft fragt nicht nach dem Alter und nicht danach, wie viel Geld jemand hat. Freundschaft fragt nur danach, ob man sich versteht. Und ich denke, wir beide verstehen uns.“
Ben strahlte über das ganze Gesicht.
„Ja, das denke ich auch.“
Und mit einem Blick zur Uhr über dem Kamin verschwand er in den Sturm, aus dem er gekommen war.
„Aber wenn Du hier bleibst, hast Du keine Freunde außer mir.“ Dieser Junge! Es gelang ihm doch tatsächlich, Maria ins Grübeln zu bringen. Ja, er hatte Recht. Es wurde Zeit, dass sie sich wieder einen Freundeskreis aufbaute, hier im Ort, wo sie sich wohl fühlte. Und der Junge brauchte auch Freunde. So sehr sie ihn mochte, er musste auch mit Gleichaltrigen zusammen sein.
„Ich werde eine Party geben“, murmelte Maria vor sich hin. Eine Party für das ganze Dorf. Fast musste sie lachen. Das Dorf hatte keine 300 Einwohner, ganz anders als die Stadt, aus der sie gekommen war. Dort passten gerade ein paar Leute in ihre kleine Wohnung, hier konnte sie das ganze Dorf im Garten bewirten. Bis zum Wochenende sollte das Wetter gut werden, so dass einer Party nichts im Wege stand.
In den nächsten beiden Tagen hatte Maria viel zu tun. Sie plante, kaufte ein und ging von Haus zu Haus, um jedem eine persönliche Einladung auszusprechen.
„Du kommst natürlich auch“, sagte sie zu Ben. „Und bring Deine Eltern mit und Eure Bekannten aus dem Wohnwagenpark.“
„Meine Eltern sind gestorben, ich bin mit meiner Tante und meinem Onkel hier.“
Maria erschrak. „Wie ist das passiert?“
„Es war ein Autounfall vor ein paar Monaten. Seitdem bin ich bei meiner Tante. Aber sie können mich nicht wirklich brauchen, sie ziehen schon seit Jahren immer durchs Land mit ihrem Wohnwagen.“
„Das tut mir leid. Dann bring Deine Tante und Deinen Onkel mit. Ich würde sie gerne kennen lernen.“
Ben half Maria bei den Vorbereitungen, so gut er konnte. Und er hatte sich auch schon überlegt, welches Geschenk er für Maria mitbringen würde. Es war gar nicht so einfach gewesen, es zu besorgen, aber er hatte sich viel Mühe gegeben und hoffte, dass es klappte. Es musste einfach klappen.
Die Gäste kamen am Sonntagnachmittag. Viele hatten sich mit ihren Nachbarn verabredet und kamen in Gruppen, so als würden sie sich nicht trauen, allein vor Marias Tür zu stehen und den Garten dieser seltsamen Frau zu betreten. Doch alle waren überrascht, wie freundlich und offen Maria war, welche Herzlichkeit sie ausstrahlte und wie gut sie ihre Gäste zu unterhalten wusste. Für die Kinder hatte sich Maria eine Ralley ausgedacht und sie freute sich bereits darauf, Ben gemeinsam mit den anderen Kindern spielen zu sehen.
Ben. Wo war er eigentlich? Die Party hatte bereits vor eine halben Stunde begonnen und Ben war noch nicht da. Er würde doch nicht… Maria beruhigte sich, als sie Ben mit drei Erwachsenen in der Ferne kommen sah und wandte sich wieder ihren Gästen zu.
Bald darauf stürmte Ben in den Garten. „Maria, komm, schau, wen ich mitgebracht habe!“
Und er zog sie mit sich zum Gartentor, wo zwei Menschen standen, die sie nicht kannte, vermutlich Bens Tante und sein Onkel. Hinter ihnen erblickte sie einen Mann, der ihr den Rücken zudrehte und sich die Umgebung ansah. Als er sich umdrehte, erkannte sie Jeffrey.
„Jeffrey!“
„Hallo Maria. Schön Dich zu sehen.“
Maria war so verblüfft, dass sie beinahe vergessen hätte, Bens Tante und seinen Onkel zu begrüßen. Sie holte das nach, doch ihre Gedanken kreisten nur darum, wie Jeffrey hergekommen war. Irgendetwas hatte der Junge damit zu tun.
„Maria, freust Du Dich? Ich habe einen Freund für Dich eingeladen, damit Du auch jemanden auf der Party hast, den Du magst. Freust Du Dich?“ Ben war völlig aufgekratzt.
„Ja Ben, danke, ich freue mich.“
Wie um alles in der Welt war es Ben gelungen, Jeffrey aufzutreiben? Da erinnerte sie sich an ihr Adressbuch, das sie einen Tag lang vermisst hatte und schließlich dort wiederfand, wo es hingehörte. Sicher hatte Ben es genommen, um einen ihrer Freunde ausfindig zu machen. „Möchtest Du mit den Kindern spielen? Erklär ihnen doch, wie ihr die Ralley machen könnt.“
Ben lief zu den Kindern, nicht ohne sich vorher noch einmal umzudrehen, um den Blick einzufangen, mit dem Maria und Jeffrey sich ansahen.
Maria unterhielt sich kurz mit Bens Tante und seinem Onkel und stellte diese dann ihren Nachbarn vor. Nun hatte sie etwas Zeit und ging mit Jeffrey in die Küche, um ungestört zu sein.
„Was machst Du hier?“ fragte sie.
„Nun, das gleiche könnte ich Dich fragen. Ich bin zu einer Party eingeladen, aber was Du hier so lange machst, weiß ich nicht.“
„Ich habe Zeit für mich gebraucht.“
„Und da verschwindest Du so einfach und sagst niemandem, wo Du bist, nicht einmal Deinen Freunden? Verdammt, wir haben gedacht, Dir sei etwas passiert.“
„Ihr hättet in der Schule fragen können. Mister Freeborne hat mich für ein Jahr beurlaubt. Und das hätte er Euch sicher gesagt.“
„Das hat er uns gesagt. Aber wir haben uns deshalb nicht weniger Sorgen gemacht. Du hättest das nicht tun sollen.“
„Bist Du hergekommen, um mir Vorwürfe zu machen?“
„Nein, ich bin hergekommen, um zu sehen, ob es Dir gut geht. Und das tut es ja offensichtlich. Jedenfalls geht es Dir besser als uns.“
Sie schwiegen eine Weile.
„Ben sagt, du erzählst Geschichten?“
Verflixt, sie hätte sich denken können, dass der Junge Jeffrey davon erzählen würde. Hoffentlich wusste er nicht, wo und wem sie sie erzählte, er würde sie sicher für verrückt halten.
„Ja, ich erzähle meine Geschichten. Und ich denke darüber nach, einige von ihnen in einem Kinderbuch zu verarbeiten.“
„Er sagt, Du erzählst sie dem Meer.“
„Richtig. Dem Meer und dem Wind.“
Wieder schwiegen sie. Jeffrey hatte den trotzigen Unterton in Marias Stimme erkannt, der ihm so wohl vertraut war. Er wusste, sie dachte, dass er sie für verrückt hielt, aber das tat er nicht.
„Du fehlst mir.“
„Hast Du keinen mehr, der Dir zuhört?“
Noch im selben Moment, als sie dies sagte, tat es ihr leid. Verdammt. Jeffrey hatte nie zuvor gesagt, dass sie ihm fehlte und sie wusste, wie viel Überwindung es ihn kostete. Sie hätte sich diese Spitze sparen sollen, die aus ihrer Verzweiflung geboren, aber hier und jetzt nicht gerechtfertigt war.
Sie sah die Enttäuschung in Jeffreys Augen.
„Doch, ich habe einige, die mir zuhören, aber es ist nicht dasselbe, als wenn Du es tust.“
„Ich bin keine Zuhörerin mehr, Jeffrey, ich bin nun eine Geschichtenerzählerin. Und ich habe hier jemanden gefunden, der meinen Geschichten zuhört.“
„Das Meer und den Wind.“ Diesmal klang Jeffreys Stimme verächtlich, obwohl er es nicht so meinte, doch er war noch getroffen von ihren Worten vorhin.
„Ja. Die und den Jungen.“ Wieder lag ein Schweigen zwischen ihnen, eines, das beiden weh tat.
„Ich muss mich um meine Gäste kümmern.“ Maria ging zurück in den Garten. Jeffrey verließ das Haus ohne ein weiteres Wort und machte sich auf den Weg in sein Hotel.
„Wo ist Jeff?“, fragte Ben.
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, er fährt nach Hause.“ Maria hatte Tränen in den Augen stehen.
„Habt ihr gestritten?“
„Ja, Wir streiten uns immer.“
„Hätte ich Jeff nicht herholen sollen?“
„Doch Ben, es war sehr lieb von Dir, dass Du Jeffrey hergeholt hast.“
„Aber warum streitet Ihr dann?“
„Wir streiten uns wie andere Leute auch, aber es tut bei uns mehr weh, weil wir uns sehr gern haben. Je mehr man sich mag, desto mehr schmerzt ein Streit.“
„Aber warum vertragt Ihr Euch dann nicht?“
„Das kann ich Dir nicht erklären, es ist einfach so.“
„Ihr seid dumm!“, rief Ben, und lief verzweifelt aus dem Garten. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, Jeff aufzutreiben und ihn zu überreden, 800 Meilen zu fahren, um zu dieser Party zu kommen und nun war alles umsonst. Nun hatten sich Maria und Jeff innerhalb einer halben Stunde so zerstritten, dass Jeff fort war und Maria versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten und die Party weiter zu feiern, obwohl ihr nicht mehr danach zumute war.
Jeff durfte nicht fortfahren. Maria war traurig, also hatte sie Jeff doch gern, er durfte nicht fort. Ben rannte in Jeffs Hotel, so schnell er konnte. Er musste ihn aufhalten, Jeff durfte nicht fahren, bevor er sich nicht wieder mit Maria vertragen hatte.
Am nächsten Morgen riss die Kirchturmglocke Maria aus dem Schlaf. Sie hatte bis weit in die Nacht hinein die Spuren der Party beseitigt, die Dekoration abgeräumt, alles gespült und aufgeräumt, und war erst nach Mitternacht ins Bett gegangen. Nun war es 7 Uhr. Sie machte sich fertig und ging zur Seebrücke, noch in der Dunkelheit, so wie sie es gewohnt war. Es war eine schöne Party gestern, sie hatte sich gut mit den Menschen hier verstanden. Und niemand würde mehr seinen Kindern sagen, dass sie sich vor ihr in Acht nehmen sollten.
Nur Jeff und Ben hatte sie enttäuscht und das tat ihr unendlich leid. Es war so nett von Ben gewesen, Jeff zu der Party einzuladen. Und so nett von Jeff, die lange Strecke herzufahren. Maria sah aufs Meer hinaus, spürte, wie der Wind ihr Gesicht umschmeichelte, und hing ihren Gedanken nach.
„Erzählst Du mir von Magic?“ Sie fuhr herum. Sie hatte ihn nicht kommen hören und blickte nun in seine Augen, die voller Güte und Neugier waren.
„Ich habe schon von Magic erzählt. Es ist jetzt Bens Geschichte, obwohl ich mir immer gewünscht hatte, dass es Deine werden würde.“
Jeffrey strich ihr übers Haar. „Ich weiß, und es tut mir leid. Ich hätte Dir zuhören sollen, als Du mir von ihm erzählen wolltest.“
„Ja.“
Jeffrey setzte sich neben Maria und legte den Arm um ihre Schulter.
„Bist du glücklich hier?“
„Ja“
„Wirst Du zurückkommen?
Maria wusste keine Antwort. „Ich weiß es nicht, aber ich habe auch noch ein paar Monate Zeit.“
„Ich möchte, dass Du zurückkommst.“
Dieser einschmeichelnde Ton in Jeffreys Stimme war Maria nur allzu vertraut. Jeffrey konnte so liebenswürdig sein, so charmant, er konnte sie mit wenigen Worten um den kleinen Finger wickeln und er wusste es.
„Jeffrey, ich weiß im Moment nicht, wo ich stehe. Und ich muss das wissen, bevor ich zurückkommen kann. Wenn ich heute entscheiden müsste, würde ich sagen, ich bleibe hier. Ich könnte mir in der Stadt einen neuen Job suchen und auf Dauer hier leben. Ich könnte neben dem Job das Kinderbuch schreiben, das mir vorschwebt, ich könnte malen und weiterhin dem Meer und dem Wind meine Geschichten erzählen. Und vor allem könnte ich für Ben da sein.“
Das war nicht die Antwort, die Jeffrey hören wollte, aber er bemühte sich, Maria zu verstehen. „Gut. Es ist Dein Leben. Erzählst du mir zum Abschied eine Geschichte?“
„Jeffrey, sei mir nicht böse, ich bin zu aufgewühlt, um eine Geschichte zu erzählen. Es würde nur ein heilloses Durcheinander geben. Ich werde Dir irgendwann in Ruhe eine Geschichte erzählen, eine, die nur für Dich ist. Und wenn ich sie erzähle, wirst Du wissen, wo ich stehe.“
Minutenlang saßen sie schweigend auf der Bank und starrten aufs Meer hinaus, bis Jeffrey aufstand und Maria mit ihm. Er nahm sie in den Arm und hielt sie fest, lange, als ob er sie nicht verlieren wollte. Dann drehte er sich um und machte sich auf den Heimweg. Maria sah ihm nach, bis er hinter der Biegung des Weges verschwunden war. Erst dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
„Ich hab Jeff fortfahren sehen!“ Völlig außer Atem kam Ben auf der Seebrücke an.
„Ja, Ben, er ist heimgefahren.“
„Habt Ihr Euch vertragen?“
„Nun, wir haben uns nicht gestritten, und das ist für uns schon sehr gut. Ben, es war sehr lieb von Dir, dass Du Jeff eingeladen hast. Nun kann er unseren Freunden erzählen, dass es mir gut geht und sie machen sich keine Sorgen mehr.“
„Hast Du ihm eine Geschichte erzählt?“
„Nein, er hat danach gefragt, aber nein. Er wollte die Geschichte von Magic hören, aber das ist jetzt Deine Geschichte. Und eine andere Geschichte fiel mir heute nicht ein.“
„Maria?“
„Ja Ben?“
„Wann wirst Du aufhören, zu weinen?“
Ein paar Tage später hatte Maria ihre Entscheidung getroffen. Sie bewarb sich an der Schule in der nahen Stadt und konnte dort nach den Ferien unterrichten.
„Ich werde nach den Ferien nicht mehr hier sein“, sagte Ben eines Morgens auf der Seebrücke und er wirkte sehr traurig.
„Fahrt Ihr weiter?“
„Ja, meine Tante und mein Onkel möchten in den Süden, hier wird es langsam kalt.“
„Würdest Du lieber hier bleiben?“
„Wenn ich bei Dir bleiben könnte, dann ja.“
Und so stattete Maria Bens Tante und seinem Onkel einen Besuch ab. Die beiden waren damit einverstanden, dass Ben bis zum Ende des Schuljahres bei Maria blieb. Und danach würde man weitersehen.
Ben genoss die Zeit mit Maria, auch wenn sie nun strenger war als in den Ferien und stets darauf achtete, dass er seine Hausaufgaben machte und in der Schule gut mitkam. Langsam fand er auch Freunde. Er ging nur noch selten am frühen Morgen mit Maria zur Seebrücke, denn es war nun Winter und sie erzählten sich zuhause viele Geschichten.
Doch manchmal hörte er, wie Maria weit vor Morgengrauen ihre Tasche packte und sorgfältig die Haustür hinter sich schloss. Sie folgte dem Weg an den sturmerprobten Häusern vorbei zum Strand, dort auf die kleine Seebrücke zu, an der im Sommer die Ausflugsboote anlegten. Und dort auf der Bank erzählte sie die Geschichten von ihr und Jeffrey. Sie erzählte sie dem Meer und dem Wind und allen Tieren des Meeres und des Windes und sie wusste sie bei ihnen gut aufgehoben.
Jeffrey erhielt ein paar Monate nach seinem Besuch einen Brief von Maria. Er zog einen Stapel Blätter heraus, denen eine Karte vorgeheftet war, auf der Maria im schrieb, dass sie ihn liebte, aber nicht zurückkommen werde. Als er die Karte beiseite legte, fiel sein Blick auf den Anfang der Geschichte, die Maria nur für ihn geschrieben hatte. Fast zärtlich fuhr er mit der Hand über das Papier und flüsterte, bevor er still weiterlas, den Titel:
„Worte im Wind“.
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Bildquelle: Songline
manu
1. Apr 2010
es gibt so viele Sätze an denen ich hängenblieb, soviel in diesem Text was mich nachdenklich macht – zu viel um es hier aufzuschreiben…
nur soviel : Song, auch Du bist eine geniale Geschichtenerzählerin!
Adrian
3. Apr 2010
Ich würde hier gerne eigene Worte lassen, aber treffender als Manu kann ich nicht antworten.
Du verstehst es, den Leser zu erreichen, und das ist nun mal das, was Geschichtenerzähler ausmacht. Deswegen werde ich mich auch nie als Autor bezeichnen, sondern stets als Erzähler und Dichter
KoKa
21. Mai 2010
Ich habe es heute Nacht gelesen und nehme die Bilder nun mit. Grüß dich, Koka