Der Tag des Drachen II

Long Wei hielt inne und blickte in die gespannten Gesichter der Schüler. Der Moment der Stille wurde durch den jüngsten von ihnen unterbrochen: „Erzähl weiter“, bat er. Long Wei atmete tief ein und setzte die Erzählung fort:

„Inzwischen war es Tag geworden, doch die vereinten Wasser ließen keinen Blick aus der Höhle zu. Im dichten Nebel war es noch immer zu gefährlich, den Heimweg anzutreten. So betete der Junge, dass es ein Drache sei, der nun bald zum Vorschein kommen musste. Es klopfte schon seit einiger Zeit nicht mehr und das Brechen der Schale hatte den Jungen auffahren lassen, bevor er sich erschrocken wieder zusammenkauerte. Die Finsternis der Höhle verbarg, was auch immer dort war: Freund oder Feind. Plötzlich spürte der Junge einen starken Luftzug aus der Höhle. Ein Rauschen war es, wie wenn ein großer Vogel aufstieg, dann kam der Schrei. Triumphierend, laut, Leben. Der Junge hielt sich die Ohren vor Schmerz. Er hörte das Wesen nicht auf sich zukommen und erschrak umso heftiger, als es vor ihm stand und ihn anblickte. Es war ein Drache. Und er war weiß.“

Erneut unterbrach Long Wei seine Erzählung. Die jüngeren Schüler hielten es kaum aus. „Weiter, weiter“, baten sie. Doch Long Wei schwieg ebenso wie der alte Lehrer Chén Liang. Sie schlossen die Augen und atmeten immer langsamer ein und aus, bis ihr Atem zum Stillstand gekommen schien. „Was tun sie da?“, fragte einer der Schüler. „Schsch“, ermahnte ihn ein älterer. So schwiegen sie alle und versanken in Meditation, wie man sie gelehrt hatte.

Nach einer Weile erhob sich Long Wei und begab sich zum Mittelpunkt des Hofes. Die Schüler konnten ihn durch den Nebel hindurch kaum erkennen. Aufrecht stand er, als ein Wesen ungeahnter Größe neben ihn niederfuhr. Weiß verschwamm es mit den Schwaden, nur die jadegrünen Augen stachen aus dem Dunst hervor. Gebannt starrten die Schüler auf den Hof, wo Long Wei Zwiesprache mit dem Drachen hielt.

Ein Rauschen nahm die Zeit, den Nebel, die Wahrheit. Long Wei saß inmitten der Schüler und räusperte sich. Die Schüler sahen sich an. War da nicht eben …? Oder hatten sie nur geträumt? Keiner wagte zu fragen. Long Wei setzte die Erzählung fort, als sei nichts geschehen.

„Der weiße Drache sah den Jungen in der Höhle lange und eindringlich an. Das Funkeln seiner jadegrünen Augen übertrug sich auf die des Jungen. Nun waren sie einander auf ewig verbunden. ‚Dein Name sei Long Wei, starker Drache, und meiner sei es von nun an auch‘, sprach der Junge, bevor der Drache sich mit einem Rauschen erhob und die Zeit, den Nebel und die Wahrheit mit sich nahm.“

„Du bist der Junge!“, flüsterte der jüngste Schüler. „Wenn du nicht daran zweifelst, ist es so“, antwortete Long Wei.
„Es ist nur eine Geschichte, wir haben geträumt“, sagte ein anderer. „Glaube nicht alles, was du siehst“, lächelte Long Wei.
„Wo ist der Drache jetzt hin?“, wollte ein dritter wissen. „Habt ihr von den Fischen gehört, die sich aus dem Wasser erheben und durch die Lüfte segeln, als seien es Vögel?“, fragte Long Wei. „Natürlich!“, antworteten die Schüler.
„Aus den schönsten Fischen des Meeres wählt jeder Jadedrache an seinem Tag sechs aus und trägt sie in die Lüfte. Den stärksten dreien haucht er seinen Atem ein und ihre Flossen werden wie Flügel, sie zu tragen. Die drei anderen kehren zurück ins Meer, wie sie es verlassen haben.“
„Mein Vater sah Schwärme von fliegenden Fischen, so viele Jadedrachen kann es gar nicht geben, wenn alle fliegenden Fische ihre Flügel von ihnen bekamen“, widersprach ein Schüler.
„Kann es doch!“, sprang der jüngste Schüler auf und wendete sich an Long Wei: „Nicht wahr?“
„Manches Geheimnis“, antwortete dieser, „muss jeder für sich selbst ergründen.“

Hilfesuchend blickte der Schüler den Meister an.
Doch Chén Liang sagte kein weiteres Wort.

(Ich danke meiner Tochter für ihr Bild, das mir Inspiration war)

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