Das grüne Buch
Clare nahm das grüne Buch aus dem Schrank, hüllte sich in ihre Decke und begann zu lesen. Sie kannte Wort für Wort, doch die Erzählungen ihres Vaters trugen sie immer wieder neu in sein Leben. Sie sah die sanften Hügel, die Wälder und Felder rund um das Dorf, in dem er aufgewachsen war, sah die Vorfahren im Hof stehen, ihren Vater als Kind mit der vom Onkel gebauten Schubkarre, seine Mutter beim Brot backen. Die Familie ernährte sich nach Möglichkeit vom dem, was der Hof hergab, doch ab und an mussten sie vier Kilometer ins Tal gehen und in der nächsten Stadt einkaufen. Der Rückweg mit den vollen Taschen war beschwerlich und so blieben die Lakritzstangen, die es als Belohnung gab, in guter Erinnerung.
Clares las über die Kindheit ihres Vaters im Krieg, seine Eindrücke von Soldaten, Kriegsgefangenen und Städtern, die hungernd die letzten Kartoffeln aus den Äckern gruben. „Wir mussten nicht fliehen, wir litten keinen Hunger und niemand aus unserer Familie ist gefallen“, beschrieb er diese Zeit in Dankbarkeit dafür, glimpflich davongekommen zu sein.
Die Kapitel über das Familienleben waren Clare die liebsten, und so las sie bei den kleinen Anekdoten weiter, die ihr Vater wieder aufleben ließ, und dem Unsinn, den sie und ihr Bruder angestellt hatten. Er führte sie ans Meer und in die Berge, wo sie ihre Urlaube verbrachten, und begleitete sie durch Schulzeit, Lehre und Flügge werden bis zu der Zeit, als sie und ihr Bruder selbst Eltern wurden.
Nach einer Weile legte Clare das Buch beiseite und strich zärtlich über den Einband. „Wofür soll das gut sein?“, hatte ihre Mutter damals gefragt, als ihr Vater zum 70. Geburtstag seine Biographie schreiben ließ.
Clare wusste es. Das grüne Buch enthielt mehr als ein Leben, mehr sogar als die Geschichte ihrer Wurzeln, mehr als die Erinnerung an ihre Kindheit und die ihrer Kinder. Das grüne Buch enthielt die unausgesprochenen Worte, in der Liebe, mit der ihr Vater all das erzählte.
Maultrommler
25. Feb 2013
“ .. die unausgesprochenen Worte…“, hier werde sie ausgesprochen im letzten Satz.
“ Wir musste nicht fliehen,wir litten keinen Hunger und niemand aus unserer Familie ist gefallen.“ Ich weiß nicht, ob diese Geschichte
nach Tatsachen entstanden ist. Wer das sagen kann oder konnte, war vom Glück über alle Maßen verwöhnt.
Kissa
25. Feb 2013
♥