Amy
Als Marc am nächsten Morgen aus dem Zimmer trat, fiel sein Blick auf eine Zeichnung an der Wand. Sorgsam nahm er sie mit in die Küche, wo Alice bereits das Frühstück vorbereitete. Sie lachte, als sie ihn hereinkommen sah: „Guten Morgen Marc, ich sehe, Sie sind schon wieder einem der Bilder verfallen.“
„Ja“, lächelte er verlegen, es ist so ausdrucksstark in seiner Einfachheit.“
„Finden Sie sich darin wieder?“
„Nein, das heißt, ein wenig. Es hat etwas Suchendes, das kann ich nachvollziehen.“
„Dann lassen Sie mich nach dem Frühstück die Geschichte dazu erzählen“, nickte sie verständnisvoll.
„Möchten Sie ihr einen Namen geben?“, fragte Alice, als der Tisch abgeräumt und das Bild in seiner Mittel platziert war.
„Der Person auf dem Bild?“, wunderte sich Marc.
„Ja.“
„Mit einem Namen ist die Geschichte persönlicher, nicht wahr?“
„Mit einem Namen bekommt die Gestalt Gesicht. Eines, das wir mit dem Klang des Namens verbinden. Ein hartes oder ein weiches, ein modernes oder eines aus vergangener Zeit.“
„Also lenkt der Name die Fantasie?“
„In gewisser Weise, ja.“
Marc überlegte einen Augenblick. Er hatte sich noch nie darüber Gedanken gemacht, aber nun, da er mit Alice darüber sprach, sah er in dem Bild völlig unterschiedliche Geschichten. Ylvie wäre ein fröhliches norwegisches Mädchen, das sich für einen Moment schmollend von einem Streit mit seinen Eltern zurückgezogen hätte, Lara ein ruhiges Kind im russischen Schnee, vielleicht auf dem Weg zur Schule, Conny … nein. Eine Conny konnte es nicht sein.
Alice lächelte ihn aufmunternd an.
„Es ist seltsam“, sagte er, „ich dachte, das Bild an sich würde die Geschichte schon erzählen, aber es ist, als würde es meine, sobald ich mir darüber Gedanken mache.“
„Also nennen wir die Gestalt ‚Marc‘?“
„Nein, sie ist ein Mädchen.“
„Ein fröhliches oder ein trauriges?“
Marc dachte an Amy, die er bei seiner Abreise zurückgelassen hatte. Vielleicht fühlte sie sich gerade wie das Mädchen auf dem Bild. „Amy“, sagte er. „Sie soll Amy heißen.“
„Nun gut“, sagte Alice, „dann können wir beginnen.“
„Es war ein anstrengender Weg zum Haus der Collins, das außerhalb des Dorfes lag. Besonders jetzt im Winter machte Ben der Weg zu schaffen. Bei Schnee ging er ihn nur noch einmal die Woche, anstatt sonst jeden zweiten Tag. Er brachte die Post und die Zeitungen der vergangenen Tage. Als junger Mann hatte er seinen Beruf geliebt. Mit den Briefen und Paketen verbreitete er auch die Nachrichten von Haus zu Haus und war immer froh, wenn er nach getaner Arbeit auf einen Tee eingeladen wurde. Aber inzwischen glaubte er jeden Knochen zu spüren. Nun gut. Bis zur Pensionierung würde nicht mehr lange dauern.
Als er den schmalen Pfad zum Haus einschlug, sah er Amy am Hügel stehen. Im Frühjahr winkte sie ihm meist vom Garten aus zu, im Sommer kam sie ihm über die Wiese entgegen gelaufen, auch wenn nie ein Brief für sie dabei war, und im Herbst teilte sie ihren Apfel mit ihm. Wann immer sie nicht in der Schule war, wechselten sie ein paar Worte. Doch heute drehte sie sich nicht um. Ben gab die Sendung im Haus ab und ging zu ihr.
„Hallo Amy, was machst du denn so allein hier draußen?“
„Drinnen ist es so laut.“
Ben hatte ihre Brüder durchs Haus toben hören. „Aber hier ist es kalt, gib Acht, dass du dich nicht erkältest.“
Sie drehte sich zu ihm um. „Draußen kann es nie so kalt sein wie drinnen.“
„Aber ihr habt doch …“, begann Ben, bevor ihm bewusst wurde, dass sie nicht das Haus meinte.
„Hast du Kummer?“, fragte er.
„Ja.“
„Was ist los?“
„Sie hören mir nicht zu. Sie sind so laut und hören mir nicht zu. Wenn ich schreie, übertönen sie mich, wenn ich weine, lachen sie mich aus, wenn ich schweige, ist es ihnen sowieso egal.“
„Wen meinst du, deine Brüder?“
„Ja.“
Puh. Das war schwierig. Ben hatte selbst eine jüngere Schwester und erinnerte sich nur allzu gut daran, dass auch er sie nie wirklich ernst genommen hatte, bis sie eines Nachts in sein Zimmer geschlichen kam. „Ben“, hatte sie geflüstert, „bist du wach?“
„Oh Kelly, was ist los?“
Und dann hatte sie ihm leise die ganze Geschichte vom Einbruch bei den Maldons erzählt, zwei alten Damen, die kurz zuvor ausgeraubt worden waren, und warum sie der Meinung war, dass der junge Carlton was damit zu tun hatte.
„Ich war total erstaunt, wie klug sie war. Ich erkannte es erst in dieser Nacht, als sie so leise erzählte.“ Ben hatte gar nicht gemerkt, dass er seine Gedanken mit Amy geteilt hatte, ebenso flüsternd wie damals seine Schwester.
Amy stand staunend vor ihm. „Du meinst, sie hören mir zu, wenn ich flüstere?“
Ben schrak auf und es dauerte eine Weile, bis er ihr antworten konnte. „Ich meine, sie hören dir zu, wenn du ruhig mit jedem einzeln sprichst. Je leiser, desto aufmerksamer werden sie sein, um dir zuzuhören.“
Amy sah ihn noch eine Weile zweifelnd an, doch dann hüpfte sie lächelnd aufs Haus zu. „Ich werde es versuchen!“, rief sie Ben zu, der nachdenklich den Heimweg antrat.“
„Und, hat sie es geschafft?“, fragte Marc.
„Würden Sie es sich wünschen?“, zwinkerte Alice ihm zu.
„Ja. Ich wünsche es ihr sehr.“
„Dann soll es so sein“, antwortete Alice und trug das Bild zurück an seinen Platz.
Abschied
„Ich könnte Ihnen noch stundenlang zuhören“, bedankte sich Marc für die Geschichte von Alice.
„Und zugleich möchten sie aufbrechen“, sah sie ihm an.
„Ja. Wissen Sie, dieses Haus, die Wärme, die Sie und ihr Mann ihm geben, die Bilder mit ihren unzähligen Geschichten: Wenn ich bliebe, würde ich mir wünschen, es könnte für immer sein.“
„Ja, so ging es uns damals auch.“ Alice blickte versonnen hinaus und sah Marc nach, als Joseph das Zimmer betrat und sie umarmte.
„Er ist aufgebrochen“, flüsterte sie, „und nahm ein Bild mit, das es nie gab.“
***
© Bild: Hazefeather
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