Gehen können

„Diese Woche werdet ihr eine Überraschung mit mir erleben“, sagte mein Großvater. Ein paar Tage später stand er morgens auf, wusch sich und sagte zu meiner Tante, die ihm den Morgenkaffee aufs Zimmer brachte: „Heute ist die Überraschung da.“ Dann legte er sich hin und starb.

Humor und Dankbarkeit waren die beiden Eigenschaften, die meinen Großvater auszeichneten. Er war ein geachteter Mann, Landwirt, erdverbunden, zugleich Ortsvorsteher des kleinen Eifeldorfes, in dem er wohnte. Er hat viel durchgemacht, zwei Weltkriege überlebt, einen davon als Soldat, 2 Kinder, seine Frau und seine Geschwister begraben.
Aber er ließ sich nie von den Schicksalsschlägen unterkriegen, sondern erfreute sich bis zum Schluss an den positiven Dingen, die er erlebt hatte. Als er starb, hatte er alles geregelt und war mit sich im Reinen. So ließ er in Ruhe los.

Ich habe mir immer gewünscht, ebenso in Ruhe loslassen zu können wie er. Und ich denke, es ist keine Frage des Alters, ob man es kann. Es gibt Punkte im Leben, an denen man alles erreicht hat, was man sich bis dahin vorgenommen hat. Ich stand an diesem Punkt, nachdem ich von einer Urlaubsreise nach Australien zurückgekehrt war. Es mag sich seltsam anhören, schließlich war ich damals erst 27, aber genau nach dieser Erfahrung sagte ich: „Jetzt habe ich alles erreicht, was ich wollte, und bin zufrieden. Nun könnte ich in Ruhe gehen.“

Was hält uns im Leben? Für mich sind es die nicht erreichten Ziele. Heute könnte ich nicht loslassen, denn ich möchte noch meine Kinder aufwachsen sehen, bis sie auf eigenen Beinen stehen. Und danach? Danach blicke ich dankbar auf das zurück, was ich erreicht habe, bis ich mir ein neues Ziel stecke.

Mein Großvater wurde 96 Jahre alt. Er hat die Überraschung, die auf ihn zukam, angenommen. Zufrieden und mit seinem Leben versöhnt. Mit Humor und Dankbarkeit, bis zum Schluss. Ohne Angst, noch etwas zu verpassen. Ich wünsche mir, dass es mir eines Tages genauso geht.

  • das gefühl: jetzt habe ich alles erreicht – hatte ich auch schon oft. und kurze zeit später hat man wieder neue ziele.

    mich hat der tod meines mannes (ich war damals 25, meine Kinder 6 und 1,5 Jahre alt) eine ganz andere sicht auf den tod bekommen lassen. natürlich nicht sofort – aber im laufe der jahre.

    gehen können – das wünsche ich mir auch – und ich wünsche es einer lieben bekannten aus ffm, die angst vorm gehen hat – wohl aber bald gehen muss.

  • sich hinlegen, loslassen und gehen können ist eigentlich eine schöne Vorstellung soweit sie mich berifft!
    es ist nur um so vieles schwerer, einen geliebten Menschen ebenso los – und gehenlassen zu können…

    • Manu, deinem zweiten Satz stimme ich uneingeschränkt zu. Es sollte möglich sein, den geliebten Menschen loszulassen, wenn man weiß, dass dieser selbst loslassen kann. Aber in diesem Punkt ist mein Verstand derzeit weiter als mein Herz.

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