Kims Mutter (2)
Gitta konnte nicht mitreden. Sie hatte bereits einige Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt, doch jede Form von Sucht war ihr unbekannt. Sie wusste nur, dass Kim Hilfe brauchte, koste es, was es wolle. Kim durfte nicht noch einmal diese nächtliche Szene miterleben, die ihrer Kinderseele einen nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügte.
Doch womit sollte sie beginnen? „Wenn sie nicht von allein damit aufhören möchte, haben alle anderen keine Chance. Das ist traurig, aber das ist so.“ Frau Schneiders Worte hallten in ihr nach. Nein, es hätte sicher keinen Zweck, mit Kims Mutter zu reden. Kim selbst wollte sie auch nicht damit belasten. Es war für das Kind schon schwierig genug.
Vielleicht sollte sie sich zuerst einmal informieren. Gitta las, was sie finden konnte. Die Informationen waren ein informativer Einstieg, aber sie brachten sie einer Lösung nicht näher. Immerhin wusste sie nun, dass die Familie in eine Therapie einbezogen werden musste. Gut und schön. Aber sie konnte doch nicht zu Kims Vater gehen und ihm raten, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vielleicht kam er ja mit der Situation besser klar, als sie dachte. Und eigentlich wirkte auch Kim äußerlich wie ein ganz normales Mädchen. Mmmh. Vielleicht war ja auch alles gar nicht so schlimm, so ein gelegentlicher Ehekrach kommt ja immer mal vor.
Gittas Eifer nach dieser ersten Nacht war schnell verflogen. Nein, sie sollte sich nicht in das Leben anderer Leute einmischen, das alles ging sie auch nichts an, sie kannten sich auch erst seit ein paar Wochen. „Kümmere Dich um Deinen eigenen Kram“, sagte sie zu sich selbst und ließ die Sache auf sich bewenden.
Zwei Monate später klingelte es nachts an Gittas Tür, während in der Wohnung über ihr Scherben zu Bruch gingen. Kim stand zitternd im Hausflur. „Kim! Komm herein.“ Gitta nahm sie in den Arm und setzte sich mit ihr, warm von einer Decke umschlungen, auf die Couch. Das Kind brachte kein Wort heraus, hielt sich aber die Ohren zu, um den selbst hier deutlich wahrzunehmenden Streit nicht mitanhören zu müssen. „Bald ist es wieder gut, sie vertragen sich wieder, bald ist es wieder gut.“ Hilflos murmelte Gitta die immer gleichen Aufmunterungen und strich Kim dabei beruhigend über den Rücken. ‚Ich hätte doch etwas tun sollen, egal was, ich hätte etwas tun sollen!’ Gitta war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Kim zu trösten und ihren Selbstvorwürfen. „Bald ist alles wieder gut…“
In dieser Nacht dauerte es zwei Stunden, bis es wieder gut und oben Ruhe eingekehrt war.
„Wir müssen etwas tun!“, sagte Gitta am nächsten Tag zu Frau Schneider. „Das geht doch so nicht weiter!“
„Mädchen, glaub mir eins: Du kannst nichts tun. Das müssen Kims Eltern unter sich ausmachen.“
„Aber Kim war heute Nacht bei mir, weil sie es oben nicht mehr ausgehalten hat!“
„Dann sei für Kim da, wann immer sie Dich braucht, aber misch Dich nicht ein. Glaub mir, es gibt nichts Frustrierenderes als den Umgang mit Alkoholikern. Es ist besser für Dich, wenn Du Dich raushältst.“
„Sollen wir mal beim Jugendamt fragen, was man da machen kann?“
Frau Schneider sagte lange Zeit nichts. Dann begann sie zu erzählen.
„Gitta, Kims Großmutter Elsbeth war eine gute Freundin von mir. Sie trank schon, als wir uns kennen lernten, aber das wusste ich damals noch nicht. Wenn wir uns trafen, war sie nett und fröhlich, wir haben viel zusammen gelacht und Spaß gehabt. Mit der Zeit wurde sie anders, war unzuverlässig und nur noch auf sich selbst fixiert. Ich habe alles versucht, um ihr zu helfen, war für sie da, selbst als sie mich immer häufiger beschimpfte, hab ihr geholfen, Papierkram für sie erledigt, sie sogar finanziell unterstützt. Aber mit allem, was ich tat, konnte ich nicht wirklich etwas für sie tun. Ich bin an Elsbeth gescheitert.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Du musst nicht alles verstehen, glaube mir einfach. Jedenfalls hat Elsbeths Mann Rudolf auch alles versucht, aus dieser Situation herauszukommen, und sich ans Jugendamt gewandt. Er wollte Elsbeth verlassen und Kims Mutter mitnehmen. Damals waren aber die Jugendämter und Gerichte noch der Meinung, dass ein Kind am besten bei seiner Mutter aufgehoben wäre, und haben ihm keine Hoffnungen gemacht, das Sorgerecht zu bekommen. Also blieb er bei seiner Familie. Weitere Jahre mit wüsten Streitereien und sogar Handgreiflichkeiten folgten, immer vor den Augen des Kindes, und keiner half. Das Jugendamt sagte, es sei immer noch besser, dass das Kind gelegentliche Streitereien mitbekäme, als es aus der Familie zu nehmen. Schließlich würde es ja von seinen Eltern geliebt. Und das war so, Elsbeth liebte ihr Kind, trotzt allem. Aber ich rede viel zu viel. Jedenfalls: Vom Jugendamt ist keine Hilfe zu erwarten.“
Entmutigt hatte Gitta aufgegeben. Frau Schneider konnte die Situation aufgrund ihrer Erfahrung sicher besser beurteilen. Und dennoch: Wann immer sie nachts aus dem Schlaf gerissen wurde, wann immer Kim vor ihrer Tür stand, schwor sie sich, dass es diesmal das letzte Mal sein würde. Doch am nächsten Tag hatte sie wieder Gründe gefunden, nichts zu unternehmen.
‚Kim wo bleibst Du?’ Gitta stand noch immer in der Wohnungstür und hoffte inständig, dass Kim zu ihr käme. Der Streit dieser Nacht war anders als die vorherigen, das Poltern heftiger gewesen. Sie schrieen sich nicht einfach an, sondern waren Hasserfüllt, beide. „Ich habe die Polizei angerufen!“, hallte Frau Schneiders Stimme durch’s Treppenhaus. Wieder ein Poltern, dann ein Schrei: „Neeiin!“ Das war Kim, unverkennbar. Im nächsten Moment stürmte Gitta die Treppe hinauf.
(Fortsetzung folgt)
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Bildquelle: Rike / Pixelio
Infos: Alkoholkrankheit
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