Uns geschrieben

Du bist der Fels,
der den Samen mir trug.
Ich bin die Ankunft,
du bist der Zug.

Uns spült kein Meer
die Erinnerung fort.
Du bist mir Name,
ich bin dir Wort.

Am Kamin (mit Audio)

Bedacht entzündete sie das Feuer, wartete, bis es sicher brannte, und schloss die Glastür des Kamins, ohne den Blick abzuwenden. Ihr Atem ging ruhig.
Sie dachte an das Bild des Kreises und an den Zürgelbaum, der Zuversicht sprach.

„Dummes Herz“, flüsterte sie, „dummes Herz.“
„Und doch malst du mich Flamme“, antwortete es.
„Flamme und mehr“, sprach sie und atmete durch.

Im Fluss ihrer Gedanken brannte das Feuer nieder. Sie legte Holz nach und summte seinem Prasseln eine Melodie von Stille.

Am Kamin Songline

Der Fund im Forst

„Verdammt nochmal!“ Mucke fluchte laut vor sich hin, nachdem er sich von dem ersten Schreck erholt hatte. Es wäre besser gewesen, Rocky nicht von der Leine zu lassen, aber er konnte doch nicht damit rechnen, dass der Pit Bull ihm einen Fuß anbringen würde. Aus der Ferne hatte er es für ein Teil einer Schaufensterpuppe gehalten, aber nun, da Rocky unmittelbar vor ihm stand, blickte Mucke auf ein Stück Fleisch mit seltsam verformten Zehen. Übelkeit stieg in ihm hoch und er wandte sich ab. Rocky ließ sich davon keineswegs beirren und sprang schwanzwedelnd um ihn herum, so dass Mucke der erneute Anblick einzelner Sehnen, Muskeln und hervorstehender Knochen nicht erspart blieb. „Rocky! Aus!“ Der Hund gehorchte aufs Wort und legte seinen Fund ab.

Mucke entfernte sich ein paar Schritte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Die Polizei war ihm auf der Spur, da konnte er unmöglich diesen Fund melden. Erstens würden sie ihn dann verhaften und ihm zweitens womöglich noch einen Mord anhängen, wo er doch nur …
„Stopp“, unterbrach Mucke seinen eigenen Gedankenstrom. Gehörte der Fuß überhaupt zu einer Leiche? Eigentlich sah er ja noch recht frisch aus, als ob er eben erst … Hatte etwa Rocky …? Mucke ging zurück und betrachtete den Fuß genauer. Die Abdrücke von Rockys Zähnen waren deutlich zu erkennen, kein Wunder, schließlich hatte er den Fuß hierher gebracht, wie er es sonst mit dicken Stöcken tat. Aber es sah nicht so aus, als hätte Rocky den Fuß abgetrennt. „Gottseidank“, schoss es Mucke durch den Kopf.
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Über den Hügel

Ich kam lange nicht mehr über den Hügel gefahren. Ich erblicke den Kirschbaum jenseits des Tales: mein Ort glücklicher Kindertage, mein Schutz, meine Welt, Start- und Zielpunkt aller Traumreisen, Ausguck auf die sonnengetauchten Felder ringsherum. Der Baum am Hang, in dem du mich fürs Leben lernen ließest; darüber das Haus. Deine Wäsche hängt nicht mehr am Pääsch neben der Scheune. Darin hast du auf dem Holzfeuer das Wasser erhitzt, das zum Waschen ebenso wie das für den Zinkzuber, in dem wir gebadet wurden. Und auch das für die Rübenschnitzel, deren Geruch mir wohlwollend durch die Nase streicht.

Ich fahre den Hügel hinunter, durch die Senke und dann rechts die Straße hoch, die auf das Haus zuführt. Du kommst über den Hof, wischst dir die Hände an der Schürze ab und begrüßt uns mit einer Herzlichkeit, die ich von niemandem sonst kenne. Ich bleibe zwei Wochen in eurem Haus, dessen Tür direkt in die Küche führt, das klein ist und kein separates Bett für mich hat und kein Bad, aber das ich heute noch nenne, wenn man mich fragt, was für mich Heimat ist. Die Heimat im Haus warst du.
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Strömung

Ich sehe gerne von der Brücke
wie der Fluss Schaumkronen wirft
in das sonst ruhige Wasser.

Lockenkopf

Locken hast du, sagt er. Ich habe dich mit langen Haaren gesehen und ganz ohne. Ich sah dich sehr schlank und cortisongeprägt. Ich sah dich am Bahnhof, im Auto, in der Stadt und im Park. Wir haben gemeinsam am Tisch gesessen.

Weißt du, wenn ich an dich denke, sehe ich nicht, wie du aussiehst oder wo wir waren.
Wenn ich an dich denke, höre ich, wie wir erzählen oder ab und zu schweigen.
Vor allem aber, höre ich uns lachen.

erdrein

Die Hände sonnengartengrün,
knackte ich getrocknete Nüsse
und aß sie sorglos
wie damals als Kind.

Aufbruch!

„Aufbruch!“, hast du gesagt. Würdest du mich fragen, wohin, würde ich dir von dem Haus mit der roten Tür und den Sprossenfenstern erzählen, aus Naturstein gebaut und mit Gauben im Dach. Der Blick von dort geht über die weite Bucht auf die andere Seite, wo der nackte Fels die Landschaft prägt. Im Westen kannst du die drei Inseln sehen, auf einer blickte ich von den Klippen ins Meer hinab, bäuchlings liegend, den Wind im Gesicht. Dort träume ich mich hin.

„Aufbruch!“, sagtest du und meintest im Hier und Jetzt und meintest es gut. Während ich mir online das Haus ansehe, das noch immer zum Verkauf steht, läuft mein Hier und Jetzt an mir vorbei und ich weiß es. „Real“ höre ich seit Tagen schon, von ihm, von ihr, von dir. Und nun, da ich es dir schreibe, sehe ich: Es ist kein Oder. Nicht: träumen oder leben. Sondern leben im Hier und Jetzt, bis ich das Haus erreiche, von dem ich träume.

Warum geschwiegen werden sollte

Wenn ein Staat, nennen wir ihn A., auch wenn der Name nicht von Bedeutung ist,
einen Staat bedroht, nennen wir ihn B.,
und B. um des Staates A. Waffen weiß und sich gleichermaßen rüstet,
ist dies dann Angriff oder Abwehr oder gibt es gar kein Wort dafür,
so dass es besser wäre, zu schweigen,
in dem Wissen, dass derjenige sich schuldig macht,
der
am Ende
den ersten Stein wirft.

Anlass: „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass

Markttag

Mit pochenden Herzen erreichten sie den Hinterhof.
„Meinst du, es hat jemand gesehen?“
„Egal, wir haben ihn.“
„Aber wenn nun doch …?“
„Der ist es wert.“
Die beiden Kinder starrten auf ihr Diebesgut.
„Du zuerst.“
„Okay.“
Es war nicht der Hunger, der sie trieb. Nur die Neugier auf die Sorte, die Mutter nie kaufte, und die Spannung, etwas Verbotenes zu tun.
Sie teilten gerecht.
Doch der Apfel schmeckte ihnen nicht.