Odem

Ich atmete den Frühlingsduft, der noch Winter trug, und spürte im sonnigen Abendlicht den Graupel des nächsten Morgens. Doch diesem Tag folgte ein nächster. Über die weißen Pfade bin ich gezogen, um zu den grünen zu gelangen. Die Schatten am Abgrund hielten mich nicht auf. Und stehe ich einst am Ort, der allen Fragen Antwort ist, wird die Geschichte mein Richter sein.

Süße Versuchung

Auf dem Picknicktisch im Wald lag Schokoladenpapier. Jemand hatte es mit einem Stein beschwert und war gegangen. Als Herbert und Gertrud den Platz erreichten, schüttelte Herbert den Kopf und entsorgte das Papier im Müllbehälter. Den Stein, einen runden Flusskiesel, nahm sich Gertrud als Handschmeichler in ihre Jackentasche.

Am Abend zuvor war Josy hier gewesen. Was wohl von ihr bliebe, wenn sie ginge, hatte sie sich gefragt und die letzte Reihe Cacaoyere Esmeraldas ausgepackt. 71% Cacaoanteil. Der Blick des grünen Papageis auf dem Papier war mit der zarten Versuchung verschmolzen und beide erzählten von Ecuador.

Es war niemand mehr da, um den sie sich kümmern musste. Mit dem letzten Stück Schokolade hatte Josy beschlossen, ihrer Sehnsucht nachzugeben. Das Papier ließ sie mit der Vorstellung zurück, dass der geheimnisvolle Blick des Papageis auch jemand anderen in die Ferne zog.

Daran dachte sie, als sie lächelnd in ihr Flugzeug stieg. Zur gleichen Zeit wurde das Papier ordnungsgemäß entsorgt.

Die Schuld

Sie nahm das Brett und setzte die Figuren, auf die eine Seite zwei weiße Löwen, auf die andere drei Graue im Kreis, dazwischen die Reihe der Schwarzen, die das Schicksal lenkten. In Gedanken spann sie Fäden, fügte bei den Löwen zwei Figuren hinzu und wob nun aus allen ein Geschehen. Dann trat sie zurück.

Nur im Abstand wird der Blinde sehend.

Die weiße Löwin schmiegte ihren Kopf an die Schulter des Löwen und begab sich an den Rand des Feldes. Ein Grauer kam auf sie zu und blieb vor ihr stehen, nahe genug, um sich in ihren Augen zu spiegeln. „Erkennst du mich?“, fragte er. „Der Löwe schweigt“, antwortete sie. Er senkte den Kopf. „Und nun?“, flüsterte er. Die Löwin blickte zurück und sah den Löwen nicken. Dann sagte sie: „Nun wird es gut.“

Rot – gelb –

Eines Tages beschloss das grüne Ampelmännchen, einfach über die Straße zu laufen. Dort angekommen, kletterte es am Mast hoch, umarmte das rote Ampelmännchen und sagte ihm Adieu. Dann verschwand es im Stadtpark und wurde nie wieder gesehen.

Walgesang

Als ich dich nackt auf dem Tisch sitzen sah, zusammengekauert, den Blick ins Leere gerichtet, zog ich mich zurück. Drei Atemzüge lang hörte ich Wale singen, sah eine Fluke aufsteigen und wieder im Meer versinken. „Gleich bläst er“, wusste ich, und als er es tat, trat ich wieder in dein Zimmer.

Du wiegtest dich in ungewolltem Sein. „Wie kann ich …“, fragtest du und hieltest inne.
„Was?“, flüsterte ich.
„Damit leben.“
Ich wünschte, ich hätte eine Antwort gewusst.

Sag nichts

Sag nichts,
mit deinen Lippen nicht, nicht mit deinem Blick.
Sag nichts.

Der Hohn, dein Schlagen
schreibt sich ins Gesicht.
Sag nichts.

Du forderst mich heraus
– erneut –
ich fürchte dich.
Sag nichts.

Und wieder liege ich
verloren
da

sag
nichts

wieder und wieder

Wüsstest du,
wie oft ich dich lese
wieder und wieder
mich erinnere,
du würdest …

ich lächle
du tust es

Jenseits von Marathon

„Pheidippides hatte es einfacher“, sage ich und du lachst mich aus.

„Er rannte 42 Kilometer, ich 3“, sagst du und ich sehe dein Temperament in dir hochkochen.

„Er hatte sein Ziel immer vor sich, 42 Kilometer weit, von Marathon nach Athen. Du läufst im Stadionrund, lässt das Ziel immer wieder hinter dir, verlierst es aus den Augen, bevor du wieder um die Kurve kommst“, antworte ich. Du schweigst. „Weißt du, Pheidippides musste nur laufen. Und wie leicht läuft es sich mit einer frohen Kunde vom Sieg dem Ziel entgegen. Du aber passierst immer wieder die Linie und es ist noch nicht genug. Immer wieder neue Hindernisse. Immer wieder noch eine Runde. Immer neue Hürden. Da vergisst man schon mal seinen Weg. Zeichne ihn dir neu auf, damit du wieder weißt, wofür du läufst.“

„Mit dir hinter dem Ziel?“, fragst du.
„Mit mir hinter dem Ziel“, lächle ich.

Mit weißen Segeln

Du versinkst in deiner Traurigkeit
bis zum Grund,

dabei sahen wir uns schon
mit weißen Segeln
das Universum bezwingen.

Ungezählte Male stand er dort
nahe bei – nie
nah genug

Jeder Grund dagegen
trug einen anderen Namen,
nur nie den,
der es tatsächlich war.