Boogie with the Preacher

Die Nacht der offenen Kirchen in Dorsten-Barkenberg – ein Nachbericht von Harry Michael Liedtke

Jetzt ist es passiert! Man konnte eigentlich damit rechnen. Der Große Mumpitz Andreas Gers hat mit seinen fetzigen Rhythmen ein Gebäude zum Einsturz gebracht. Eine Kirche noch dazu! Ich übertreibe nicht. Das ist kein Scherz, sondern heiligster Ernst. Was dem Teufel in jahrtausendelangem Bemühen nicht gelang, schaffte der Große Mumpitz – unterstützt von seinem treuen musikalischen Begleiter Heiner Wilke – in 5 Minuten mittels seiner Gitarre. Sein Church Rock hat ein Gotteshaus gesprengt. Das musste ja so kommen! Thrummm! Erst explodierte die majestätische Orgel, dann kam die Decke runter. Wer es nicht glaubt, der mag sich nach Dorsten-Barkenberg zur Barbarakirche begeben, wo sich dieser bedeutende Akt in der Rock’n’Roll-Historie ereignete und die Aufräumarbeiten noch immer im Gange sind.
Glücklicherweise fand die Rahmen gebende Nacht der offenen Kirchen gleich an zwei Locations statt, sodass die Auseinandersetzung mit dem Leitmotiv „Von der befreienden Kraft der 10 Gebote“ nicht unterbrochen werden musste.

Foto: Sabine Bornemann


Neben der katholischen Barbarakirche lud das zu Fuß keine zwei Minuten entfernte evangelische Gemeindezentrum zu Kunst und Kultur. Im steten Wechsel wurde die Veranstaltung durchgeführt – mal hüben, mal drüben. Eine gute Gelegenheit für das Publikum, sich zwischendrin auch mal die Beine zu vertreten, denn geboten wurde viel, sowohl für die Ohren als auch für die Augen.

In der Barbarakirche gab es die grandiosen Arbeiten der Fotokünstler Julia Röken und Marc Brachmanski zu bestaunen, im Gemeindezentrum die expressiven Acrylbilder der bekannten Malerin Annette Dyba. Beide Ausstellungen laufen übrigens nach der Veranstaltung eine Weile weiter. Ein paar Wochen hat man also noch Gelegenheit, sich die Werke anzuschauen. Sollte man sich nicht entgehen lassen.
Los ging das Programm mit den beiden Pfarrern Günther Krüger und Christian Wölke, die den Zehn Geboten eine der heutigen Sprache entsprechende Lesart verpassten, um sie von den Missverständnissen zu befreien, die sich im Laufe der Zeit infolge einer antiquierten Diktion gebildet haben. Musikalisch eingerahmt wurde diese Klarstellung von peppigem Gospel-Rock der Jugendband Cross, einer brillanten Coverversion des Dire-Straits-Klassikers „Brothers in Arms“ – für die Gerd und Alfred Wüst (Gitarren), Lukas Czarnuch (Orgel) und Philipp Schneider (Schlagzeug) verantwortlich zeichneten – sowie eines Orgelstücks des studierten Kirchenmusikers Stephan Hillnhütter. Letztgenannter sorgte später mit seinem Jazz-Trio (vervollständigt durch Schlagzeuger Elmer Zimmermann und Bassist Otto Inhester) im evangelischen Zentrum bei den dortigen Programmteilen für mächtig Stimmung.
Nach einem ersten Umzug ging es weiter mit Poetry Slam. Feuerkopf Franziska Röchter trieb mit Donnerhall und Charme so schwierige Themen wie Down-Syndrom und Vegetarismus ins Bewusstsein und zeigte die Vielschichtigkeit des scheinbar so unzweideutigen Gebots „Du sollst nicht töten“ auf. Die renommierte Schriftstellerin Regina Schleheck sorgte anschließend mit einer kurzen Jugendgeschichte übers Stehlen für breites Schmunzeln. Der Gladbecker Lyriker Dirk Juschkat bezauberte mit ebenso schelmischen wie nachdenklichen Versen zum übergeordneten Veranstaltungsmotto „Lasst Euer Licht leuchten“.
Danach ging es wieder rüber in die Barbarakirche, wo es Andreas Gers wie erwähnt gewaltig krachen lies. Franziska Röchter und Dirk Juschkat waren abermals im Einsatz und sorgten mit ihren pfiffigen lyrischen Sentenzen zu Neid, Seelenschmerz und Nächstenliebe für allgemeines Kopfnicken. Die Wittener Autorin Maria Mietasch schlug eher leise Töne an, war mit ihren zwei klugen Kurzgeschichten zu Ehebruch und Einsamkeit aber nicht minder eindrucksvoll.
Zurück im evangelischen Gemeindezentrum, wurde es ernst. Regina Schleheck ließ mit ihrer hammerharten, tieftraurigen Titelgeschichte ihres Erzählbandes „Klappe zu, Balg tot“ manchen Zuhörer schlucken. Nach diesem krassen Stoff gab es zum Schluss eine happige Portion Klamauk. Im Duett mit Dirk Juschkat trug ich meine Geschichte „Der Kongress der Götter“ vor, die sich um Polytheismus mit all seinen Vor- und Nachteilen dreht. Die Divinitasfossile Thor und Herkules, deren Glanzzeiten auf Erden längst vorbei sind, parlieren über Gott und die Welt, und ihre Bestandsaufnahme fällt ziemlich ernüchternd und spöttisch aus. Waldorf und Statler lassen grüßen. Den Schlusspunkt des gleichermaßen umfangreichen wie gehaltvollen Programms lieferte Dirk Juschkat, der tatsächlich noch ein weiteres, ein 11. Gebot ausgemacht hat: „Du sollst nicht denken“. Ein provokantes Stück Gesellschaftskritik, handelte es sich bei diesem Lyriktext doch um einen ironischen Vorwurf und eine Warnung an uns alle, denn dass jene Weisung nicht von Gott ausgeht, dürfte klar sein.
Um ziemlich genau 23:45 Uhr war dann eine gut besuchte Veranstaltung Ende. Mag sein, dass so mancher Kirchenbesucher an diesem Abend was zu bereuen hatte, aber es war bestimmt nicht sein Kommen. Und abgesehen davon, dass es kurzweilig zuging, gibt es noch etwas sehr Positives zu vermerken: Es war mitnichten eine Selbstbeweihräucherungssitzung der Kirchen, ein gottergebenes Ja-und-Amen-Sagen, wie man es schon so oft erlebt hat. Es durften vielmehr direkt in der „Höhle des Löwen“ ausgiebig Kritik geübt und unangenehme Themen angesprochen werden, und dies wurde auch frei von der Leber weg getan. Wie es scheint, setzen die Kirchen – evangelisch wie katholisch –, endlich auf echten Dialog und nehmen die Bedenken und Einreden der Menschen ernst, zumindest an der Basis. Es geschehen eben doch noch Zeichen und Wunder.

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