Running up that hill
17 Jahre sind eine lange Zeit, und Zeit ist relativ.
Hatte er gestern Nacht vor dem Einschlafen nach langem Grübeln geschlußfolgert.An diesem Morgen jedoch stand er auf, trank ein Glas Wasser und ließ die Katze in den Garten.
Es waren zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter gewesen. Er setzte sich Kaffeewasser auf, ging in die Bibliothek und ließ sich auf dem Hocker vor dem Klavier nieder.
Heeey, ich bin´s! Weißt du noch, als Anna uns diese Sache versprochen hat? Sie wird ihr Versprechen morgen einlösen. Halte deinen Terminkalender frei und ruf mich an! Byyyeee!
Seine Hände glitten über die Tasten als würden sie eine Schlange streicheln, aber der Klang, den sie erzeugten, war wunderbar und klar. Der Ast einer Eiche, die so nahe am Haus stand, klopfte mit Leichtigkeit ans Fenster und bot somit einen leicht unregelmäßigen, aber wohltuenden Takt.
Fakt war, Susan vergaß ab und zu die Regeln. Fakt war auch, und er fühlte sich deswegen nicht unschuldig, dass sie nie soweit hätten gehen dürfen.
Er begann eine Komposition zu spielen, die er letzten Sommer im Gefühl völliger Reizlosigkeit erfunden hatte und stellte fest, dass das A verstimmt war. Die zweite Nachricht war von Simon gewesen. Die erste seit 17 Jahren.
Der Vertrag ist geplatzt! Hörst du mich? Bist du da Adrian? Wenn du da bist, geh ran verdammt! Der Vertrag ist geplatzt!
Sind Verträge nicht nur dazu da, gebrochen zu werden? Diese Komposition war seiner Meinung nach die Schlechteste, die je seinem Talent entsprungen war, aber er mochte sie irgendwie.
Das Telefon klingelte erneut. Adrian wußte nicht, ob er aufstehen und den Hörer abnehmen, oder einfach im gegenwärtigen Zustand verweilen und auf das Anspringen des Anrufbeantworters warten sollte. Er entschloß sich abzunehmen.
„Ja bitte?“, fragte er in geheimer Vorfreude. Am anderen Ende jedoch war nichts zu hören. „Hallo?“. Fragte er nocheinmal und wartete gespannt auf eine Antwort.
Er hörte einen Teller zu Boden fallen, dann das Zuschlagen einer Tür, dann nichts. Er entschloß sich aufzulegen und später nochmal über dieses soeben geschehene Ereignis nachzudenken. Je weniger man weiß, desto mehr kann man glauben. Würde er jetzt in Panik ausbrechen und unüberlegt handeln, könnte er genauso gut sein Kind verkaufen. Wer verkauft schon sein Kind?
Er begann seine Sachen zusammenzusuchen, die er für den bevorstehenden Tag heute brauchen würde. Eine Flasche Wasser, ein Gummiband, sein Feuerzeug, die Minikamera und den Briefkastenschlüssel. Die Clomazontabletten und die Landkarte.
Er durfte alles, nur nicht die Orientierung verlieren.
Auf dem Weg zur Haustür hielt Adrian kurz inne und starrte das Bild an der Flurwand an. Simon hatte es ihm damals geschenkt, nachdem sie über alles geredet hatten. Es fiel ihm schwer, sich an seine Collegezeit zu erinnern; war doch Erinnerung eine vom Unterbewußtsein beeinflußte Funktion, die nur schwer durchblicken ließ, was wahr und falsch gewesen war.
Das Bild zeigte einen älteren, dünnen Mann auf der Treppe eines Zirkuswagens. Sitzend, oberkörperfrei und mit verschlissenen Jeans. Neben ihm eine Trommel, eine kleine Feuerstelle mit einem Wassertopf. Eine kleine Reisetasche. Und da war der Kopf eines schlafenden Hundes, der unter der Treppe hervorluckte. Das Gesicht des Mannes ließ ein leichtes Lächeln erahnen und vermittelte gleichzeitig solch hochdosierte Traurigkeit, dass sich Adrian jedes Mal beim Anblick des Bildes nicht zu helfen wußte. Der Mann hielt eine Marionette in der rechten Hand. Sie war ein Abbild des Mannes und ihm vollkommen identisch. Ein großer und ein kleiner Zwilling. Die gleichen leblosen Arme, die schlaff zu Boden hingen. Die Marionette schaute den Betrachter des Bildes an, und zwar genau auf die gleiche Weise, wie es auch ihr Besitzer tat. Auf der Schulter des Mannes klaffte die Hand die Hand eines hinter ihm stehenden Clowns. Dieser hatte ein breites Grinsen im Gesicht, von einem Ohr zum anderen und schien den Mann, die Marionette und den Betrachter des Bildes auszulachen.
Wer verarscht hier wen?
Schien er zu fragen. Dies war auch eine schlechte Komposition, dachte Adrian, aber auch sie mochte er irgendwie. Er riss sich los und ging rasch, aber nicht hektisch Richtung Haustür. Er schloß nicht ab und stolperte über die Katze.
Du hast noch 23 Minuten. Das ist zu schaffen. 23 Minuten sind eine kurze Zeit, und Zeit ist relativ.
Mumpitz
22. Feb 2011
Sehr gut geschrieben, aber ich krieg leider keinen Zusammenhang hin. Ist das ein Auszug aus einer längeren Geschichte?
Dennoch schön, es gelesen zu haben! Sprachlich gefällt es mir sehr!
Angi
22. Feb 2011
Ich schließe mich an. Leider habe ich nicht mitgekriegt, worum es eigentlich geht?!
Songline
22. Feb 2011
Ich stimme Mumpitz zu: Sprachlich sehr gut.
Mir bleibt das Bild haften: der alte Mann, der seine eigene Marionette hält, als hätte er sein Leben in der Hand gehabt, und der doch von einem anderen, dem Clown geleitet gewesen zu sein scheint.
Die anderen Szenen deuten auf den Tod: Ein geplatzter Vertrag, die fallende Tasse, die Aufforderung, nicht die Nerven zu verlieren. Gehen, ohne abzuschließen, relative Zeit.
Das hier kann ich nur bestätigen: „Je weniger man weiß, desto mehr kann man glauben.“ Das ist der Grund, warum ich immer viel frage.
Guter Einstand hier bei den Netzkritzlern!
derschulz
23. Feb 2011
Es ist eine Fortsetzungsreihe. Mehr wird nicht verraten.
Was man mit der Geschichte an sich macht, bleibt absolut jedem selbst überlassen.