Der Maler

Seine Staffelei war ein Konstrukt, das keinem Wind standhielt. Es war gerade einmal in der Lage ein paar Bögen Papier zu halten, für eine gewisse Zeit. Einige Bögen geschöpftes Papier aus groben Stücken und Stückchen Holz. Nichts Reines. Die anderen Malutensilien verstaute er in einem hinfälligen Koffer. Gequälte Pinsel, Quasten und Schwämme, ein kleines Glas, etwas feinen Sand, eine Schnur, die er für die Raumaufteilung benutzte und Farben. Cremige, ölige, nach Felsspat und Cyan riechende kräftige Mischungen, die dem Innern des Koffers den Geruch einer alten, längst verlassenen Apotheke verliehen. Und ein wenig hatte auch er an seiner Kleidung von allem haften, was man aber erst bemerken konnte, wenn man ihm sehr nah kam. Die Gelegenheit ihm so nah zu kommen war aber gering, denn niemand interessierte sich für ihn.

Seine Schuhe hingen mehr an ihm als dass sie ihn trugen, und hinterließen auf den Pflastern von Paris Spurlosigkeit. Gewissermaßen ging er in der Masse unter, wurde von ihr mit gespült. Die Stadt und das Land hatten andere Wünsche als er. Der größte war die Krankheit abzuschütteln, die alles erfasst hatte und die Leute sterben ließ wie Fliegen. Viele hatten sich von Gott abgewandt und den Glauben verloren, dass er helfen könnte. Einen Gott, der dort im Himmel bisher alles so fein regierte. Einen, auf den man sich verlassen konnte.

Der Maler hatte seinen Blick ebenfalls zum Himmel gewandt. Nicht um etwas zu erbitten, sondern um ihn gewissermaßen fest zu halten. Ihn faszinierte der Gedanke, dass etwas seine wackelige Staffelei trug, das die Erde umspannte wie ein dünnes Tuch. Er brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, ob jemand ihm Wolken abkaufte auf Papier, denn bis auf Wenige waren die meisten arm. Man musste schnell sein mit dem Leben, denn es war sehr schnell vorbei. Man gab des Wenige für Nahrung her und nicht für einen Himmel, der nichts mehr taugte. Vielleicht brauchte man ja eines Tages noch etwas Geld, um sich von der Hölle frei zu kaufen, die sich aufgetan hatte.

Ebenso wichtig wie Nahrung schien dem Maler sein Werk zu sein. Er fühlte sich getrieben und gezogen zu den Stellen, an denen er Ruhe fand, und dem Gestank der vielen Menschen entkommen konnte. An solchen Orten, etwas entfernt von der Stadt, schien sie ihm unwichtig gegenüber ihrem Himmel, dass er sie nur schemenhaft andeuten mochte durch ein paar Kohlestriche. Sollten seine Kollegen doch Wände malen und Türme, Straßen und Menschen, die von allem gefressen wurden. Seine Dramen vollzogen sich an einem Himmel, der das Geschehen im Land klein erscheinen ließ.

Anders als Häuser oder ein Park bewegte sich das Malobjekt, um sich nicht einfangen zu lassen. Ein Modell, das nicht still sitzen wollte und es oft eilig hatte. Es war zornig und sanftmütig, an einem Tag verschwunden, um an einem anderen sich von seiner ungeahnten Größe zu zeigen. Es schoben sich Berge zusammen, die noch vor Sonnenuntergang zusammen brachen, oder taten sich nicht auch Wüsten auf, deren Grenzenlosigkeit lebensmüde machte?

In einem trockenen Versteck stapelten sich seine gemalten Himmel übereinander. Schicht um Schicht, und alle waren mit seiner Unterschrift versehen, die er geschickt im Bild zu verstecken verstand. Manche der Bögen standen sich biegend an die Wand gelehnt, nur wenige hatten einen Rahmen und bekamen dadurch paradoxerweise mehr Weite, mehr Freiheit. Tage, Wochen und Monate voller Momente erfassten den Betrachter, und enthoben ihn für einen Moment. Wenn sich einmal eine Gelegenheit ergab, dass er etwas Himmel jemandem zeigte, der ihm neugierig gefolgt war, erntete er in der Regel Unverständnis darüber, wie er seine Zeit vergab. Das Wertvolle etwas Wertlosem opferte. In den Kunstausstellungen, zu denen tausende pilgerten, zeigten Portraits das Gesicht der Zeit. Ihr Lächeln und ihren Schmerz. Zu diesen war kein Bild von ihm zugelassen worden. Immerhin, er hatte es versucht.

In einem seiner Briefe an seinen Bruder schrieb er:

Mein geliebter Bruder,

wenn ich dir heute schreibe, dann über den Himmel, den ich sah und sehr schnell malte. Ich ahnte, nein ich wusste es am Abend zuvor, dass er einmal kommen würde. Er bestand aus einer mächtigen Fläche in leinblauer Färbung, wie sie nur der Frühling imstande ist zu mischen. Gott sei Dank hatte ich noch von der Paste, die ausreichte, um sie auf den ganzen Bogen zu bekommen. Ich nahm einen der leichten Schwämme und erschrak über die Heftigkeit der Farbe, doch wusste ich um ihre Wirkung, wenn sie trocknete. In der Ferne zog noch die Nacht eine letzte Schleppe aus grau betupftem Stoff, der der besseren Gesellschaft würdig gewesen wäre. Das eigenartige aber war bei der ganzen Malerei, dass ich keine Furcht verspürte, sollte ich das Motiv aus den Augen verlieren. Sollten sich Wolken auftun, um es zu entstellen. Selbst den Hunger spürte ich nicht und nahm nur etwas Wasser zu mir. Die Stadt selbst war beherrscht durch dieses Inferno aus Farbe, und es würde mich nicht wundern, wenn nicht einmal das ausreichte, dass die Menschen den Kopf hoben, um es zu sehen. Ich hatte das bestimmte Gefühl der einzige weit zu sein, der es sah und imstande es fest zu halten. Es glitt mir selbst dann nicht aus den Händen, als es zum Abend ging. Die Landschaft unter dem Himmel malte ich wie sie einmal war. Noch nicht behauen und bebaut, nicht verformt und gedemütigt durch Sünden, zu denen nur der Mensch fähig ist sie zu begehen. Dieses wird mein wertvollstes Bild sein, obwohl ich mir im Klaren darüber bin, wie wenig Wert es hat in anderen Augen. Ich würde es nicht tauschen wollen gegen eines, das mir neulich angeboten wurde für eine meiner Skizzen.

Und Geld, wie viel sollte ich verlangen für einen Himmel, den niemand sieht? Wer wäre bereit sich von Geld zu lösen, um etwas auszustellen, das tagtäglich ist, um das es sich nicht zu kämpfen lohnt? Ein Fremder vielleicht? Einer, der mich neulich interessiert nach mehr Bildern fragte, und dem ich vertraute einige meiner Werke zu zeigen. Er ging unentschlossen, wie ich es befürchtet hatte. Ich kenne es ja nicht anders.

Einmal, ich bin mir aber nicht sicher, wird alles die Seine herunter schwimmen. Die Bögen werden schwimmen können, da sie aus Holz sind, die Farbe wird die Seine unwesentlich färben. Sie wird darüber lächeln wie die Betrachter bisher. An einem fernen Ufer angespülte Fragmente, die von Enten gefressen werden. Hungrig, sie mit etwas Fressbarem verwechselnd. Aber wenn du mich fragst, mein lieber Bruder, warum ich das alles auf mich nehme und dafür selbst hungere, dann kann ich dir sagen, dass es mich erfüllt. Es tröstet mich nichts anderes als ein Bogen, der sich über eine Stadt spannt, die gequält ist von Krankheiten und Mord. Von Lüge und Unaufrichtigkeiten, für die sie dieser Tage bestraft wird. Sie vergessen nach oben zu schauen und zu sehen. Nicht zu beten um sich frei zu kaufen, sondern das Wesentliche in ihre Herzen nehmen, ohne es anderen zu stehlen.

Nehme ich alles für sich. Den Pinsel. Die Farben, die Bögen und die Zeit, und betrachtete es so, wie es sich eröffnet, so ist doch alles nichts. Erst die Komposition der Dinge und einer, der sie erfasst, macht sie zu etwas Großem. Davon, etwas Großes in all der Zeit geschaffen zu haben, davon bin ich sehr überzeugt. Einer der Kritiker stellte fest, dass ich zu schnell malen würde, und empfahl mir mehr Zeit zu nehmen für alles. Ich beschloss am nächsten Tag noch schneller zu malen. Sie kommen und verstehen nichts. Vielleicht klingt das in deinen Augen etwas überheblich, doch male ich nicht für sie, wie ich nur für dich diesen Brief schreibe.

Jeder möge sich von dieser Welt sein eigenes Bild malen. Es ist verdammt hart etwas dafür herzugeben. Etwas, das mit Hunger erkämpft wird kann nicht falsch sein, denn vom Boden erst erkennt man die Höhe, aus der man fallen kann. Die Angst zu fallen habe ich täglich. Nicht um meiner selbst willen, sondern darum, einen Himmel zu versäumen. Einen wie den, den ich soeben malte und hoffe, dass du ihn eines Tages zu Gesicht bekommst. Wir werden uns dann nah sein, wo wir so weit voneinander entfernt leben.

Morgen hat sich der Fremde angesagt. Vielleicht ist er ja doch bereit etwas zu zahlen für eines der Bilder, von dem ich jetzt schon weiß, dass ich mich schwer davon trennen kann. Morgen werde ich den Brief zur Post bringen, man weiß ja nie, wie lange es dauert. Wenn du mir Geld schickst, dann nehme ich es eher für die Bögen statt Brot, und eher für die Farben, aus denen ich satter werde als hätte ich gegessen. Für dich und mich habe ich schon zwei Himmel zur Seite gestellt. Es ist einmal ein Winterhimmel, an den der Frost seine unverwechselbare Handschrift ins Blau gekratzt hat, und einmal das Bild, das ich gestern malte, und das ich für mich zur Seite legen möchte als Beweis, dass es mich gibt. Es muss noch trocknen.

Ich wohne zur Zeit in einer Straße ohne Namen. Sie liegt abseits von jeder gewöhnlichen Straße. Vielleicht schreibst du an mich und beziehst dich auf das bekannte Cafe´ de Paris, das hier nicht weit von mir ist. Vielleicht kennt mich der Bote, wenn er herum fragt. Oder schreib an das Cafe´. Ich hole mir dann deinen Brief.

In Liebe zu dir und Gedanken an deine Gesundheit. In dieser Zeit das Kostbarste, außer dem Himmel für uns alle.

Dein dich liebender Bruder

Er faltete das Papier und gab es in ein Kuvert, das er sorgfältig verklebte. Schrieb in seiner eigenartig schrägen Schrift die Adresse seines Bruders und steckte sie in die zerschlissene Jacke, die er sich über zog. Es war kalt im Frühling, und das Wasser der Seine war kälter als sonst im Jahr. Die Poststelle erreichte er nach einem abendlichen Gang durch die engen Gassen der Stadt. Er warf den Brief ein und begab sich auf den Heimweg, der von einem tiefen Abendrot gezeichnet war wie Blut.

Der Fremde hatte sich davon überzeugen können, dem Wunderling aber seine Hochachtung vor dessen Bildern verschwiegen. Er war ihm auf der Spur, und verfrühte seinen Besuch um einen Tag, indem er ihm jetzt folgte. Der Maler muss ihn eingelassen haben. Vielleicht haben sie noch ein wenig über die Kunst gesprochen, vielleicht ging es um das Geld für einen der Himmel, von denen er sich so schwer trennen mochte. Vielleicht um „den“ Himmel.

In der Zeit, die Paris erlitt, war es nichts Ungewöhnliches, wenn ein Körper die Seine entlang trieb. Das geschah täglich. Es waren auch Hunde dabei und alles, was der Fluss tragen konnte, um es ins Meer zu bringen. Es drehte sich in Strudeln und Schnellen, stieß an Brücken und blieb wie sein Körper auch irgendwo weitab in einem Schilfgürtel hängen, der ihn sanft festhielt. In diesem Festhalten war keine Gewalt. Diese war vorher geschehen.

Seine Bilder waren allesamt verschwunden wie auch er. Das einzige, das man von ihm fand, war ein Bild, das noch nach frischer Farbe roch. Er hatte es zum Trocknen auf den Speicher geschoben unter zwei Dachsparren, die es hielten. Oben, dem Himmel so nah wie es nah sein konnte in diesen Zeiten der Not und Entfernung.

Epilog:

Seine Bilder wurden weltweit zum Zeugnis. Es dauerte allerdings noch etliche Jahre, bis die Welt das Licht in ihnen erblickte.

  • Es gibt Texte, die man nicht kommentieren möchte, um ihren Zauber nicht zu brechen. Darum sage ich nun nichts mehr, sondern flüstere ganz leise: zauberhaft!

  • Eine sehr stimmungsvolle Geschichte aus dem Paris der Kunst und der Malerei. Die Himmel-Bilder setzen dem Verfall, dem Tod und der Krankheit etwas unendliches entgegen, was am Ende nicht in der Seine schwimmt. Selbst wenn der Maler dort vielleicht ins Meer getrieben ist, seine Himmel werden zum Zeugnis. Zeugnis für eine Kunst von innen, ohne Kompromisse, ohne Zweck, ohne geheiligte Mittel.
    Manch einer wird es nicht verstehen können, dass ein Stück Leinwand satter machen kann als Brot. Und doch werden die meisten Leser eine Sehnsucht verspüren, es fühlen zu können.

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