fridas Lesetipp: Thoppil Mohammed Meerans „Die Geschichte eines Dorfes am Meer“

„Die Geschichte eines Dorfes am Meer“, bereits 1988 in Indien erschienen, ist dank der engagierten Übersetzung von Thorsten Tschacher der erste auf Tamil verfasste Roman, der aktuell direkt ins Deutsche übersetzt wurde.

Sein Autor Thoppil Mohamed Meeran stammt aus der Südspitze Indiens, dem Kanyakumari-Distrikt im Bundesstaat Tamil Nadu und ist in vieler Hinsicht auch für indische Verhältnisse ein eher ungewöhnlicher Autor, da er zum einen in seiner Muttersprache Tamil schreibt – es gibt kaum Tamil-schreibende Autoren – und zum anderen Muslim ist, also einer zwar starken, aber dennoch immer noch von der Hindu-Mehrheit misstrauisch beäugten Minderheit angehört.

„Die Geschichte eines Dorfes am Meer“ ist auch in Teilen die Geschichte des Dorfes, aus dem Meeran stammt. So harmlos wie der Titel suggeriert, ist diese Geschichte ist allerdings nicht.

Die Menschen, in diesem Dorf in der absoluten Mehrheit Muslime, sind gefangen in einer Vielzahl sozialer Zwänge, die durch Religion, Aberglaube, Unwissenheit und dem Gegensatz zwischen Reich und Arm diktiert werden. Da im traditionellen Indien das Individuum immer gegenüber der definierenden Gruppe (Familie, Kaste, Religion, Eigentum) zurücksteht, beschränkt sich Meeran auf eine überschaubare Anzahl von Repräsentanten der einen oder anderen Gruppe. Und dass das Dorf hier keinen Namen hat, ist ein weiterer Verweis darauf, dass die „Geschichte“ sich so oder ähnlich in jedem anderen Dorf abspielen kann oder könnte.

Unumschränkter Herrscher des Dorfes ist der Mudalali (ungefähr „Kapitalist“) vom „Nördlichen Haus“. Dieser Mudalali ist der reichste Mann am Ort, er regiert umfassend in das Leben auch noch des ärmsten Dorfbewohners hinein. Dass er seinen Reichtum nicht ehrlich erworben hat und nur seinen eigenen Interessen verpflichtet ist, weiß jeder im Dorf, aber fast niemand wagt es, dies infrage zu stellen.

Der arme Haifischflossenhändler Mahmud ist der einzige im Dorf, der sich konsequent gegen den Mudalali stellt. Mahmud, ein Aufgeklärter nicht aus Bildung, sondern aus Menschenverstand, steht stellvertretend für jene Neuem gegenüber aufgeschlossene Minderheit, die nahezu immer in repressiven Verhältnissen zu finden ist. Er zahlt dafür einen hohen Preis.

Der Fall des Mudalali beginnt, als sich ein Tangal (ein direkter Nachfahre des Propheten) bei ihm einnistet. Dieser Tangal ist eine dem Tartuffe vergleichbare Figur, höchstwahrscheinlich ein Schwindler, auf jeden Fall ein Schmarotzer, der den Frauen hinterher steigt und die Menschen mit haarsträubenden Lügengeschichten in seinen Bann zieht. Der Tangal ist die Verkörperung des Aberglaubens und der Antimoderne, einer, der davon lebt, dass Unwissenheit das Nach-Denken verhindert.

Vierter in diesem Kreis ist der Lebbai, der Muezzin der Moschee des Mudalali. Der Lebbai ist der perfekte Untertan und Opportunist: Einer, der nach oben katzbuckelt und nach unten erbarmungslos tritt. Und der sein Mäntelchen immer in den gerade herrschenden Wind hängt. Seine große Stunde schlägt mit dem Niedergang des Mudalali.

Nicht zu vergessen die Frauen: Versteckt hinter ihren Schleiern und in den abgeschlossenen Frauengemächern sind sie lediglich Ware, die in arrangierten Ehen für die Mehrung von Reichtums und Ansehen verschachert werden. Liebe ist in diesen Verhältnissen weder erwünscht noch möglich, von freier Entfaltung ganz zu schweigen.

Mit dem – von der Obrigkeit verordneten – Bau einer Schule und dem Einzug eines aus dem Norden stammenden (muslimischen) Lehrers eskalieren die Ereignisse. Am Ende siegt die Unwissenheit, letztendlich ein Phyrrus-Sieg.

Zeitlich zwar angesiedelt kurz nach dem 1. Weltkrieg ist die Geschichte dieses Dorfes in seinen sozialen Verwerfungen zeitlos. Wissen ist Macht und damit gefährlich für die Herrschenden, Unwissenheit ist Ohnmacht und dient zur Aufrechterhaltung feudaler Verhältnisse: Das galt und gilt in allen Zeiten und Kulturen. Und damit weist Meerans „Die Geschichte eines Dorfes am Meer” auch über rein indische Befindlichkeiten hinaus, und macht sich uneingeschränkt interessant für alle jene Leser, die gerne mal über den Tellerrand westlicher Kulturen hinausschauen.

© frida 2012

Foto: frida

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