Advent in Mwanza

Regina war gerade von der Schule nach Hause gekommen und stand nun im Feld, um den dürren Boden zu lockern.
Der Regen ließ schon seit Wochen auf sich warten und sie wusste, dass die Ernte nicht gut ausfallen würde. Zu trocken war der Boden, zu klein die Fruchtstände des Getreides, zu winzig die Körner, die sie bereits fühlen konnte. Mit etwas Glück würde es gerade reichen, um die Familie bis zur nächsten Ernte zu ernähren. Doch keinesfalls würden sie einen Teil der Ernte verkaufen können, wie schon im letzten Jahr nicht und auch nicht im Jahr davor.


Regina erhob sich aus ihrer gebückten Haltung und blickte gedankenverloren über das Feld. Welch seltsamen Namen hatte ihr Vater für sie gewählt: Regina, die Königin. Nein, eine Königin konnte sie niemals werden. Auch wenn sie einmal besser leben wollte als ihre Mutter, die sechs Kinder geboren hatte und ihrem Mann bei der Feldarbeit half. Regina sah in der Ferne die Hütte, in der sie aufgewachsen war. Es war eine typische Hütte, wie so viele hier am Viktoriasee: aus Lehm gebaut, strohgedeckt, die glaslosen Fenster mit Holzrahmen eingefasst. Ihre Mutter kochte davor auf einer offenen Feuerstelle. Regina wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Die Sonne brannte unbarmherzig herab. Wenn es doch nur regnen würde, nächste Woche vielleicht, zum Weihnachtsfest. Dann würden die Körner noch ein wenig wachsen und die Familie bekäme etwas Geld, um die Dinge zu kaufen, die sie sich nun nicht leisten konnte: Einen neuen Kanister, um das Wasser vom Brunnen zu holen, eine bessere Hacke, neue Schulhefte für ihren Bruder.

Reginas Füße brannten. Der Riemen ihrer Plastiksandalen schmerzte zwischen ihren Zehen. Sie hatte Wasser geholt heute Morgen und war dann in die Schule gegangen. Fast eine Stunde brauchte sie für den Weg und doch ging sie ihn gern, denn es war ein Privileg, in die Schule gehen zu dürfen. „Bildung ist der Schlüssel zum Leben“ hatte ihre Patenmutter aus Deutschland geschrieben, sogar auf Suaheli, damit sie es verstand. Und sie hatte es verstanden. Sie würde fleißig lernen und dann Krankenschwester werden oder Lehrerin. Sie würde Geld verdienen können, ohne auf den Regen angewiesen zu sein, auf den man sich nicht verlassen konnte.

Regina dachte an die kleine Kiste neben ihrer Schlafstelle, in der sie ihre Schätze aufbewahrte: Fotos von ihrer Patenmutter und deren Familie, von der Stadt, in der die Patenfamilie wohnte, von diesem fernen Land, das sie selbst vermutlich niemals sehen würde. Schön war es dort, grün und fruchtbar, so wie hier, wenn der Regen kam. Manchmal gab es Schnee dort im Winter, zur Weihnachtszeit, und die Menschen stellten geschmückte Bäume in ihre Häuser. Wie reich mussten die Menschen dort sein, wenn sie kostbare Bäume in ihre Häuser stellen konnten.

Bisweilen schickte die Patenmutter Geschenke für Regina: Schulsachen, ein T-Shirt, eine Dynamo-Taschenlampe. Sie waren ihr wertvollster Besitz. Reginas Vater freute sich mit seiner Tochter so sehr über jedes Geschenk, dass er überschwängliche Dankesbriefe schrieb und den Segen Gottes für die Patenfamilie erbat. Jeder Brief aus Deutschland machte ihm Mut. Er gab ihm die Gewissheit, dass die Welt ihn nicht vergessen hatte. Ihn nicht und seine ganze Gemeinde nicht. Mit den Geldern der Patenfamilien hatten sie die Schule ausgebaut, Brunnen gebohrt und eine Gesundheitsstation ausgestattet. Seinen Kindern würde es einmal besser gehen.

Regina richtete sich wieder auf. In der Ferne sah sie den Gemeindehelfer kommen. Er stieg aus seinem klapprigen Auto und holte Kisten von der Ladefläche. Hatte ihre Patenmutter wieder geschrieben? Regina vergaß die stechende Sonne und die brennenden Füße. So schnell sie konnte, rannte sie zum Dorfplatz, wo sich nach und nach alle Einwohner versammelten. Der Gemeindehelfer hatte Ersatzteile für die Brunnen mitgebracht, Ausstattung für die Gesundheitsstation und die Post der Patenfamilien.

Reginas Herz pochte. Ja, auch für sie war etwas dabei. Das kleine Paket enthielt einen Brief und Fotos ihrer Patengeschwister, außerdem ein Geschenk, das Regina aufgeregt öffnete. Ein Ball kam zum Vorschein, ein echter Basketball und eine Pumpe, um ihn aufzublasen. Wie sehr liebte sie das Basketballspiel! Bisher hatte sie nur in der Schule spielen können und nun besaß sie ihren eigenen Ball! Ihre Freude war unermesslich und auch die umstehenden Kinder brachen in Jubel aus, wussten sie doch, dass sie mit diesem Ball gemeinschaftlich spielen würden.

Reginas Vater sah den Glanz in den Augen seiner Tochter. Für einen Augenblick vergaß er das Feld, die karge Ernte, den trockenen Boden und den Regen, der nicht kam. Noch am gleichen Abend schrieb er einen Dankesbrief nach Deutschland und erbat Gottes Segen für die Patenfamilie. Es würde drei Monate dauern, bis der Brief sein Ziel erreichte, doch das störte ihn nicht. Er wusste sich in Gedanken verbunden mit diesen Menschen, die in der Woche darauf das Weihnachtsfest feierten und um Regen beteten für Regina und ihre Familie.

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Infos: http://www.plan-deutschland.de/

  • Ich weiß, dass diese Geschichte im Rahmen einer Weihnachtsanthologie veröffentlicht worden ist, und zwar mit besonderer Erwähnung im Vorwort. Und das zurecht, wie ich finde! Es ist eine sehr einfühlsame Weihnachtsgeschichte, keine Schnee, kein Glitzer, keine Rentiere. Und doch ganz nah dran am „Eigentlichen“, an dem, was Weihnachten für uns ist oder doch sein sollte.

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