Das schönste Geschenk

WunderkerzenSie stand kurz hinter dem Eingang des Konsumtempels, gut sichtbar für die hinein- und hinaushastenden Menschen und doch von diesen unbemerkt, die mit Scheuklappenblick nur darauf aus waren, noch rechtzeitig Geschenke für das Weihnachtsfest zu besorgen. Sie ertrug die immerwährende Wiederholung der musikalischen Beschallung, das Blinken der Beleuchtung am künstlichen Weihnachtsbaum und die Kälte, die jedes Öffnen der Tür als frostigen Gruß zu ihr trug.
Seit Tagen schon wartete sie darauf, ihr Geschenk abgeben zu können. Doch wer auch immer an ihr vorbei ging, verweigerte die Annahme.

„Bist Du die Information?“ Der Junge, der plötzlich vor ihr stand, blickte unsicher auf das Schild, das sie vor sich aufgestellt hatte.
„Nein, ich bin nicht die Information, aber vielleicht kann ich Dir trotzdem helfen?“
„Nein, wenn Du nicht die Information bist, kannst Du mir nicht helfen. Ich hab meine Mama hier verloren und Mama sagt immer, wenn wir uns mal in einem Geschäft verlieren, soll ich zur Information gehen, sie holt mich dann da ab.“
„Nun, ich könnte Dir zeigen, wo die Information ist und Du kannst dann dort auf Deine Mama warten.“
„Aber Mama sagt immer, ich darf nicht mit fremden Leuten mitgehen. Wenn Du mir sagst, wohin ich gehen muss, finde ich den Weg schon allein.“
Sie überlegte. Es war zu kompliziert für diesen kleinen Kerl. Die Information befand sich in der oberen Etage, zudem im Nebenflügel des Gebäudes. Der Junge konnte sicher den Übersichtsplan noch nicht verstehen, dessen sich selbst die Erwachsenen bedienen mussten, um sich hier zurechtzufinden.
„Okay, junger Mann. Der Weg ist schwierig und ich kann ihn nicht auf einmal beschreiben. Aber ich habe eine Idee. Du musst nicht mit mir mitgehen. Ich gehe mit Dir. Das heißt, Du gehst vor, bis zu dem Punkt, den ich Dir beschreibe. Ich komme zwei Minuten später nach und wir treffen uns wieder. Dann erkläre ich Dir den Weg zum nächsten Punkt. Ist das für Dich in Ordnung?“
Der Junge überlegte kurz. Ja, das war in Ordnung. Er würde zur Information kommen, ohne mit jemand Fremden mitzugehen. Mama wäre sicher damit einverstanden.

In 100 Metern Entfernung war die Rolltreppe zu sehen.
„Siehst Du die Rolltreppe?“
„Nein, ich bin zu klein.“
„Gut. Gehe einfach immer an diesen Geschäften hier vorbei, bis Du zu einer Rolltreppe kommst. Dort wartest Du. Ich komme dann nach.“
Der Junge machte sich auf den Weg und sie folgte ihm mit einigem Abstand. An der Rolltreppe trafen sie sich wieder.
„Hey, das hast Du gut gemacht. Jetzt fahr erst einmal nach oben und warte dort wieder.“
So ging es weiter, Stück für Stück, bis sie es nach 5 Stationen bis zur Information geschafft hatten.
Der Junge wirkte traurig. „Mama ist noch nicht da.“
„Sie kommt sicher bald. Komm, wir setzen uns hier hin. Magst Du mir ein wenig erzählen?“
Etwas zu erzählen, könnte nicht schaden, dachte der Junge. Seine Adresse durfte er nur der Polizei verraten, aber es gab ja noch so viele andere Dinge, über die er mit der netten Frau reden konnte. Und so sprudelte es nach kurzer Zeit aus ihm heraus. Vom Fußballspielen erzählte er und von den Kindern in seiner Klasse, von seinem besten Freund Max, mit dem er sich verkracht und dann wieder vertragen hatte, und von seiner Lehrerin Frau Schüller, die er sehr mochte. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort, dass seine Mutter immer so viel zu tun hatte und recht traurig war, seit Papa und sie sich getrennt hatten.
„Weißt Du, es ist so, dass die Menschen traurig sind, wenn sie sich von jemandem trennen. Du warst doch sicher auch traurig, als Du Streit mit Max hattest.“
„Ja, ganz dolle sogar.“
„Siehst Du. Doch obwohl eine Trennung traurig macht, ist sie manchmal besser, als sich immer zu streiten. Deine Mama wird mit der Zeit auch wieder froh werden, ganz bestimmt.“
„Ja, aber sie muss dann immer noch so viel arbeiten. Seit Papa weg ist, hat sie nicht mehr so viel Zeit für mich, weil sie jetzt mehr Geld verdienen muss, sagt sie.“
„Mmmh. Was denkst Du, was Deine Mama mehr Spaß macht, zu arbeiten oder Zeit mit Dir zu verbringen?“
„Ich weiß nicht.“
„Hast Du sie mal danach gefragt?“
„Nein, weil sie doch immer so müde ist, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt, und dann macht sie noch Haushalt und ist traurig. Da kann sie nicht auch noch nach mir schauen.“

„Nico, Du bist ja schon da!“ Eine junge Frau eilte tütenbeladen auf den Jungen zu.
„Mama!“ Nico war aufgesprungen und lief seiner Mutter entgegen. „Ich hab’s gut gemacht, nicht wahr, ich bin zur Information gegangen, und die nette Frau hat mir geholfen, aber ich bin nicht mit ihr gegangen, sondern sie mit mir. Ich hab alles richtig gemacht!“
„Du bist ein braver Junge. Ich wusste, dass ich mich auf Dich verlassen kann. Ich hab schnell noch ein paar Geschenke gekauft und bin nun fertig. Lass uns nach Hause gehen.“
„Ich sage der netten Frau noch Auf Wiedersehen!“
Nico wandte sich um. „Duhu, darfst Du mir sagen, wie Du heißt? Damit ich Max von Dir erzählen kann?“
„Ich heiße Carina und ich freue mich sehr, dass wir uns getroffen haben. Du bist der einzige, der mein Geschenk angenommen hat.“
Nico wunderte sich und seine Mutter kam erstaunt näher.
„Welches Geschenk?“, fragte sie etwas misstrauisch.
„Zeit. Ich verschenke Zeit.“ Carina hob ihr Schild. „Zeit zu verschenken“, stand darauf. „Zeit ist sehr wertvoll. Sie ist das wertvollste Geschenk, das wir jemandem geben können. Zeit, ihm zuzuhören. Zeit, miteinander Spaß zu haben. Zeit, Sorgen zu teilen. Zeit, gemeinsam zu essen. Viele Menschen überhäufen sich mit materiellen Dingen und teilen doch ihr Leben nicht mehr miteinander. Weil sie das wichtigste Geschenk vergessen haben.“

Nicos Mutter betrachtete nachdenklich die Einkaufstüten, in denen sich seine Weihnachtsgeschenke verbargen. Ja, auch sie schenkte dem Jungen materielle Dinge, mehr noch, als er sich gewünscht hatte. Aber sie nahm sich immer seltener Zeit für ihn.
„Darf ich Sie einladen? Sie und Nico, auf einen Kaffee? Und Kakao für den Jungen? Wir könnten uns unsere lustigsten Weihnachtserlebnisse erzählen. Oder einfach nur mal durchatmen, ganz bewusst. Nur an das Hier und Jetzt denken. Ja?“
„Oh ja, Mama, bitte!“ Nico hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere.
Carina schien sehr sympathisch zu sein. Ja, mit ihr würde man reden können. Sie würde zuhören, intensiv, und nicht immer nur oberflächlich Interesse vorspielen, wie es so viele andere taten. Die Geschenke waren besorgt und alles andere konnte warten.
Nicos Mutter lächelte und streckte Carina die Hand entgegen. „Ich bin Marlies“, sagte sie dann.

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Bildquelle: Songline

  • Heute nennt man es „Zeit schenken“ – irgendwann war es einfach mal „menschliche Anteilnahme“ … Und ich bin und bleibe weiterhin davon überzeugt, dass 98,9% ALLER bereit und willens sind/bzw. wären, diese zu geben und zu empfangen … wenn sie sich sich, wenn wir uns nur uns vorbehaltlos anvertrauen könnten …
    Neues Thema: Woher kommt dieses „zwischenmenschliche Misstrauen“???

    Die Art, wie die Protagonisten deiner Geschichten mit Kindern umgehen, die empfand ich schon seitdem ich sie erlese als sehr zärtlich und sehr einfühlsam.

  • Fritzi, ich persönlich kenne viele 90/10-Menschen. Das sind Leute, die bei einer Unterhaltung 90% Gesprächsanteil haben und anderen nur zu höchstens 10% zu Wort kommen lassen. Solchen Menschen mag ich mich nicht anvertrauen.
    Dann kenne ich Menschen, die so sehr mit ihren eigenen Dingen beschäftigt sind, dass sie keinen Blick mehr für den Nächsten haben. Auch solchen Menschen mag ich mich nicht anvertrauen.
    Beides hat nichts mit Misstrauen zu tun.

    Ich habe das Glück, auch Menschen zu kennen, die – egal womit und wie sehr sie gerade beschäftigt sind – immer ein offenes Ohr haben. Die Zuhörer sind, Mitdenker, Weiterbringer. Das sind diejenigen, bei denen sich die Frage des vorbehaltlos Anvertrauens garnicht erst stellt. Es passiert einfach – wechselseitig.

    Danke für Deine Anmerkung zum Umgang mit Kindern. Das tut der Mamaseele in mir sehr gut.

  • Sofort fiel mir Michael Endes „Zeitsparkasse“ ein. Carina ist so eine Momo,die sich Zeit nimmt für die Mitmenschen, die zuhören kann, und in deren Gegenwart alle Menschen fröhlich und mitfühlend werden. Nirgends besser passt dieser Zeitgedanke als in unsere Weihnachtszeit, in der der Wert der Zeit so oft vergessen wird – oder sind es tatsächlich die grauen Herren der Zeitsparkasse, die uns versuchen, unsere Zeit zu stehlen?

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