Kims Mutter (3)

FeeenweinRikeDer Anblick, der sich Gitta bot, war erschreckend: Kim kauerte in der geöffneten Wohnungstür und blickte starr ins Wohnzimmer, wo ihr Vater schluchzend vor der Couch zusammengesunken war. „Ich wollte das nicht tun, es tut mir leid, ich wollte das nicht“, brach es aus ihm heraus. Kims Mutter wand sich auf dem Couchtisch und als sie sich umdrehte, erkannte Gitta die Glasscherben in ihrem Rücken. Blut quoll durch das helle Nachthemd. Gitta unterdrückte einen Schrei, hob Kim auf und brachte sie zu ihrer Wohnung. „Wir rufen jetzt zuerst für die Mama einen Doktor, ja? Dann darfst Du Dich bei mir auf der Couch einmummeln und ich schaue nach Deinem Papa.“ „Nicht weggehen.“ Das war alles, was Kim für die nächsten Stunden hervorbrachte.

Sie trafen Frau Schneider auf der Treppe. „Kims Mama ist verletzt, ich rufe den Notarzt. Bitte schauen Sie nach ihrem Vater, ich bleibe bei Kim.“ Verflucht. Frau Schneider wurde ärgerlich bei dem Gedanken, sich nun doch einmischen zu müssen. Hatte sie nicht damals mit Elsbeth genug mitgemacht? Musste sie dasselbe nun auch noch mit ihrer Tochter erleben? Sie hatte schon Elsbeth nicht helfen können, niemand war ungeeigneter, sich jetzt um ihre Tochter zu kümmern. Aber Gittas Blick ließ keinen Widerspruch zu. Also ging sie weiter nach oben, und fand Kims Eltern vor, wie sie auch Elsbeth und ihren Mann schon gesehen hatte.

Kurz darauf waren die Rettungssanitäter da, der Notarzt folgte wenige Minuten später. „Sonja Wengert, sie sagt, sie sei ausgerutscht und rückwärts auf den Couchtisch gefallen. Ihr Mann Peter hat das bestätigt. Wir haben sie noch nicht bewegt, um weitere Verletzungen zu vermeiden.“ „Zuerst müssen alle Glasscherben weg, die hier lose herumliegen.“ Peter Wengert saß noch immer bewegungsunfähig vor der Couch. „Habt ihr ihn auf Schocksymptomatik untersucht?“ „Natürlich, aber es geht ihm gut. Er kann wohl kein Blut sehen.“ Das Team arbeitete routiniert und zügig. So war Sonja Wengert sehr schnell mit einer Infusion versorgt und transportbereit. Minuten später hörte Gitta den Krankenwagen fortfahren.

„Ich wollte das nicht, aber sie hat mich so wütend gemacht, da hab ich die Kontrolle verloren. Mein Gott.“
„Es ist nicht Ihre Schuld. Ich kenne das, genau so, und es ist nicht Ihre Schuld.“
„Ich würde nie einem Menschen etwas tun, einer Frau erst recht nicht, aber sie hat mich so wütend gemacht…“
In diesem Momente klingelte es. Frau Schneider stand auf, öffnete das Fenster und blickte nach unten. Die Polizei stand vor der Tür. Nein, die konnte sie nun nicht brauchen.
„Es tut mir sehr leid, ich habe mich verhört, die Herrschaften hatten das Radio auf voller Lautstärke und da läuft gerade ein Kriminalhörspiel. Es ist aber jetzt schon leise gestellt“, rief sie.
„Wir würden uns das gerne selbst ansehen.“
„Oh, bitte nicht, das Kind ist jetzt gerade eingeschlafen, sie würden es aufwecken. Wenn Sie darauf bestehen, kommt Herr Wengert morgen zur Wache und sie können ihn dann befragen.“
Die Beamten dachten an den ganzen Papierkram, verzichteten auf eine Vorladung und fuhren davon.

„Danke“, sagte Peter Wengert.
„Nichts zu danken.“ Sie schwiegen eine Weile.
„Sie wissen, dass Sie etwas tun müssen?“, sagte Frau Schneider dann. „Wenn ihre Frau noch nicht so weit ist, etwas zu tun, dann ist jetzt zumindest für Sie der Zeitpunkt, zu handeln. Für Sie selbst und für Ihr Kind.“
„Ich weiß. Aber ich kann sie nicht verlassen. Egal, wie es ist, ich liebe sie.“
„Wenn Sie nichts tun, wird sie Sie zugrunde richten. Sie sollten sich Hilfe suchen.“
„Meine Frau braucht Hilfe, aber sie will sie nicht. Wenn sie sich nicht helfen lässt, wie kann man mir dann helfen?“
„Sie sollten lernen, was Sie tun können, um sich selbst und Ihrer Frau zu helfen. Ich habe vor langen Jahren meine Freundin nicht retten können und bin gegangen. Bis heute habe ich das Gefühl, versagt zu haben. Es gibt doch heute Gruppen, die nicht nur die Kranken, sondern auch die Angehörigen betreuen. Ich denke, es würde Ihnen schon helfen, sich mit anderen Betroffenen austauschen zu können.“
„Ich wollte das nicht. Es tut mir so leid, ich wollte das nicht.“
Peter Wengerts Gedanken drehten sich im Kreis. Es war noch zu früh, dieses Gespräch fortzusetzen.

Am folgenden Nachmittag klingelte Peter Wengert an Frau Schneiders Wohnungstür. Als sie öffnete, hielt er Ihr den Prospekt einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholkranken entgegen. „Würden Sie mich begleiten? Bitte. Ich traue mich dort nicht alleine hin.“
Frau Schneider atmete tief durch. Sie hatte mit dem Thema nichts mehr zu tun haben wollen. Nun war sie wieder mittendrin. Aber vielleicht war das auch gut so. Vielleicht würde sie es diesmal besser machen. Vielleicht würde sie Elsbeths Tochter die Hilfe geben können, die sie Elsbeth nicht zu geben in der Lage gewesen war.
„Wann ist der erste Termin?“, fragte sie.
„In einer Stunde. Ich weiß, das ist etwas kurzfristig, aber…“
„Ich komme mit Ihnen.“

(Fortsetzung folgt)

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Bildquelle: Rike / Pixelio
Infos: Alkoholkrankheit

  • gespannt und etwas atemlos habe ich nun alle 3 Teile dieser Geschichte hintereinander gelesen…
    ich weiß, wie Kim sich fühlt und bin froh, daß Frau Schneider ihre Meinung nun doch geändert hat!
    Wenn ich auch weiß, das das sich Raushalten und sich nicht einmischen wollen häufig weniger der Gleichgültigkeit als eher der Hilflosigkeit entspringt wünschte ich mir sehr für unsere Welt, daß sich viele Frau Schneiders umentschließen und sich sehr wohl einmischen!

  • Manu, ich gebe Dir Recht, man sollte sich einmischen.
    Aber in bestimmten Situationen ist das sehr schwierig. Das gilt besonders beim Thema Alkoholismus. Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr merke ich, wie man wohlmeinend alles falsch machen kann.

    Gleichwohl: Gitta kann für Kim da sein. Du darfst gespannt sein, ob sie das sein wird. Ich bin es auch, denn ich schreibe zwar die Geschichte, kenne aber ihren Ausgang noch nicht.

  • dann lassen wir uns beide überraschen -:)
    ich bin gespannt!

  • Teil 5 ist gerade fertig geworden und noch kein Ende abzusehen. Das Teil wird länger, als ich dachte. Manche Geschichten verselbständigen sich einfach 😉

  • dann schick schonmal Teil 4 rüber 🙂

  • Grins. Ich stelle jeden Tag einen Teil raus, muss ja die Spannung halten. Außerdem möchte ich immer einen leichten Vorspruch beim Schreiben haben, sonst komme ich in Stress und unter Stress kann ich nicht schreiben.

  • ooookay -:) dann geh ich jetzt mal schlafen und freu mich auf morgen !

  • Irgendetwas … an der Art dieser menschlich-moralisch-hilflos-empörten Art der Berichterstattung empfinde ich als allzu theoretisch.

  • Mmh, Fritzi, kannst Du das konkretisieren? Vielleicht werden dann die nächsten Teile besser. 😉

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