Kims Mutter (4)

FeeenweinRike„Der Wandel muss beim Nichtalkoholiker beginnen.“
„Der Alkoholiker hat zwei Waffen: Die Wut und die Angst.“

Auf dem Heimweg von der Selbsthilfegruppe sprachen Frau Schneider und Peter Wengert nur wenige Worte miteinander. Beide hingen ihren Gedanken nach. Die vergangene Stunde war sehr aufschlussreich gewesen und nun musste jeder für sich das Gehörte erst einmal verarbeiten.

Die Gruppe hatte sie herzlich aufgenommen. Sie wurden gebeten, sich mit Vornamen vorzustellen und zu sagen, warum sie hier waren. „Ich bin Peter und ich habe vergangene Nacht meine Frau verletzt.“ „Ich bin Ingrid und begleite Peter. Wir wohnen im selben Haus.“
Peter war darüber erstaunt, dass niemand ihn strafend oder entsetzt anblickte, als er bei der Vorstellung von der Verletzung seiner Frau sprach. Das gab ihm den Mut, nach dem Austausch der anderen Gruppenmitglieder ausführlicher zu berichten, wie es dazu gekommen war:

„Meine Frau macht mich oft so wütend. Ich weiß nicht, wie sie das immer wieder schafft. Es beginnt mit Kleinigkeiten, einer Meinungsverschiedenheit, die im Grunde nichtig ist. Vergangene Woche diskutierten wir über neues Geschirr. Sie sagte, wir bräuchten ein neues Service und ich wollte wissen, ob ich eines besorgen solle. Sie sagte, dass sie gerne dabei wäre, weil ich einen fürchterlichen Geschmack hätte. Gut, sagte ich, wir könnten es ja auch zusammen aussuchen. Nein, sagte sie, sie wolle lieber allein gehen. Ich wollte ihr aber das Geld nicht mitgeben, weil ich Angst hatte, sie nehme ein billiges Geschirr und würde vom restlichen Geld Alkohol kaufen. Am Ende beschimpfte sie mich als geiziges Arschloch. Genau das hat sie gesagt: Geiziges Arschloch. So was macht mich wütend, denn ich habe immer alles bezahlt, was wir uns leisten konnten, und ihr nie einen Wunsch abgeschlagen.

Gestern saßen wir gemütlich auf der Couch und sie hatte den ganzen Abend noch keinen Alkohol getrunken. Sie trinkt nicht jeden Abend, wisst Ihr? Ich hab mich jedenfalls sehr gefreut. Wir haben uns den Spätfilm angesehen, der einige erotische Szenen enthielt. Und zum ersten Mal seit Wochen bekam ich wieder Lust auf meine Frau. Versteht ihr, sonst ist es so eklig, wenn sie nach Alkohol riecht und nicht sie selbst ist. Aber gestern war sie nüchtern und stank nicht und lallte nicht und da hab ich meinen Arm um sie gelegt, sonst nichts.
‚Was wird das jetzt?’, hat sie gefragt.
‚Ich hab Lust auf Dich’, antwortete ich. Ihr Blick sagte alles. Er war so voller Widerwillen, dass ich meinen Arm sofort zurückzog. So saßen wir einige Minuten da.
‚Sonja, wir müssen miteinander reden. So, wie es jetzt ist, bin ich nicht glücklich und ich denke, Du bist es auch nicht’, hab ich ganz vorsichtig angefangen.
‚Rede mir nicht ein, ob ich glücklich bin oder nicht!’ Sie war gemäßigt sauer.
‚Sonja, wir unternehmen nichts mehr zusammen, Du lachst nicht mehr…’
‚Ich bin doch kein gackernder Hampelmann, der ständig lachen müsste!’
‚Nein, das bist Du nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass Dir nichts mehr Freude macht.’ ‚Was Du schon für Eindrücke hast. Mach Dir lieber mal um Deine eigenen Probleme Gedanken, Du Möchtegern-Therapeut!’

Sie fing schon wieder damit an, mich zu beleidigen. In diesem Moment hätte ich gehen sollen, aber ich dachte an die ganzen unnötigen Diskussionen der vergangenen Monate, an all die Beleidigungen, die sie mir schon an den Kopf geworfen hatte und sagte:
‚Wärest Du keine Alkoholikerin, würdest Du keinen Mann brauchen, der sich neben dem Job, dem Haushalt und dem Kind auch noch um seine versoffene Frau kümmern muss.’
Dann stand ich auf um zu gehen. Sie sprang hinterher, packte mich am Arm und schrie:
‚Was bildest Du Dir eigentlich ein! Du hast ja keine Ahnung! Du bist nichts weiter als ein arrogantes Arschloch!’
Sie hat früher nie ‚Arschloch’ gesagt, wisst Ihr. Aber seit sie trinkt, gehört diese Fäkalsprache zu ihrem Standardrepertoire. Ich dachte an die Sonja, die ich kennen gelernt hatte, dieses zarte, unschuldige Wesen, das in jedem, der sie kannte, den Beschützerinstinkt weckte. Ich dachte an die gemeinsamen Jahre, wie schön es früher war, und was jetzt aus meiner Frau geworden war. Die Frau, die mich nun ständig als Arschloch beschimpfte, die mich wütend machte, war nicht Sonja. Vor mir stand der leibhaftige Teufel.
‚Pass auf, was Du sagst!’ Meine Wut stieg ins Unermessliche.
‚Und ein impotenter Schlappschwanz bist Du obendrein!’
In diesem Moment verlor ich endgültig die Kontrolle und stieß diesen Teufel, der immer noch meinen Arm umklammert hielt, von mir. Ich wollte weg von hier, nur weg. Sie stürzte rückwärts auf den Couchtisch, wo noch die Wassergläser standen. Und die Scherben bohrten sich in ihren Rücken.“

Die letzten Sätze hatte Peter nur unter Tränen hervorgebracht. Anschließend herrschte Schweigen. Die Gruppe hatte Erfahrung genug um zu wissen, dass es eine Weile dauern würde, bis Peter wieder aufnahmefähig war.

Irgendwann begann Martin zu sprechen: „Der Alkoholiker hat zwei Waffen: Die Wut und die Angst. Über die Angst sprechen wir, wenn Du soweit bist. Die erste Waffe ist die Wut. Der Alkoholiker kann einen anderem Menschen so lange herausfordern oder provozieren, bis der zornig wird und die Beherrschung verliert. Dann argumentiert dieser Mensch ebenso unfair wie der Alkoholiker oder er brüllt zurück oder er wendet gar körperliche Gewalt an. An genau diesem Punkt aber hat die Beziehungsperson verloren und kann dem Alkoholiker nicht mehr helfen. Denn der Alkoholiker hat nun diesen Fehltritt des anderen in der Hand, um sein eigenes schlechtes Verhalten und sein fortgesetztes Trinken damit zu rechtfertigen.

Gelassenheit und Selbstbeherrschung sind die ersten Eigenschaften, die ein Angehöriger oder Freund von Alkoholiker lernen muss. Wenn man sich provozieren lässt, geschehen zwei Dinge: Man gibt dem Alkoholiker ungewollt Recht. Auf der anderen Seite wird man so wütend über sich selbst, weil man sich des eigenen schlechten Verhaltens bewusst ist, dass auch der Bezugsperson auf Dauer schwere seelische Schäden drohen.“

„Das kenne ich“, sagte Peter. „Wenn ich darüber nachdenke, was ich alles zu meiner Frau gesagt habe, wie ungerecht ich war, nachdem sie mir Ungerechtigkeiten an den Kopf geworfen hatte, dann bin ich wütend auf mich selbst. Und ich merke, dass ich die Wut auf meine Frau und auf mich inzwischen auch auf Menschen übertrage, die mit uns gar nichts zu tun haben. Gestern habe ich die Reinigungskraft auf der Arbeit angemault, als sie mein Büro saubermachen wollte. Die Frau ist immer nett und freundlich und sie konnte nicht wissen, dass ich Überstunden machte, also war sie hereingekommen.“

Martin fuhr fort: „Der Wandel muss beim Nichtalkoholiker beginnen. Es ist wichtig, nie die Beherrschung zu verlieren, egal, wie sich Deine Frau Dir gegenüber benimmt. Das bedeutet nicht, dass Du Dir alles gefallen lassen musst, im Gegenteil. Sage ihr, dass Du ein Gespräch immer dann beendest, wenn es nicht mehr konstruktiv weitergeführt werden kann. Sei konsequent und entziehe Dich einem Gespräch, sobald Du Dich nicht mehr wohl fühlst. Deine Frau muss die Konsequenz kennen und erfahren. Es ist wichtig, dass Du Dich selbst dauerhaft daran hältst.“

Kurz darauf war die Sitzung beendet. Ingrid Schneider hatte seit ihrer Vorstellung kein Wort mehr gesagt. Aber sie ließ nun die Erlebnisse mit Elsbeth Revue passieren und erkannte, dass auch sie sich viel zu oft auf Elsbeths verbale Machtkämpfe eingelassen und verloren hatte. Die Wut von damals stieg wieder in ihr hoch. Die Wut auf Elsbeth und die Wut auf sich selbst. Es tat wieder weh, fast so stark wie damals. In diesem Moment erkannte sie, dass sie selbst ebensoviel Hilfe brauchte wie Peter.
„Ich begleite Sie nächste Woche wieder“, stellte sie fest.
„Das freut mich sehr.“
„Und da wir jetzt schon unsere Vornamen kennen, können wir uns auch Duzen. Ich bin Ingrid.“ Sie streckte ihm aufmunternd die Hand entgegen.
„Peter. Aber das weißt Du ja.“
Er nahm ihre Hand in beide Hände. Und ohne ein weiteres Wort wussten sie, dass sie von nun an Verbündete waren.

(Fortsetzung folgt)

________________________________________________________________
Bildquelle: Rike / Pixelio
Infos: Alkoholkrankheit
Recherche und Zitate (kursiv): „Wegweiser für Angehörige von Alkoholikern“ der Al-Anon Familiengruppen

  • mmmhh – da steigt sie in mir hoch – die Wut…
    aufgewachsen mit einem Alkoholiker bin ich der „guten Ratschläge“ müde. Sehr schnell ist man wohl drin in einer Co-Abhängigkeit und redet sich ein, man bleibt aus Liebe. Für mich allerdings ist da eher die Frage, wozu braucht man das und in wieweit können solche Selbsthilfegruppen hilfreich sein, wenn der Alkoholiker weiter säuft und bleibt wie er ist ???
    Und die Verbundenheit von Ingrid und Peter – wozu das – wo führt sie hin?
    Mag sein es entspringt meiner Wut – doch dieser Text ist mir zu seicht…

  • manu, wenn Deine Wut noch immer da ist, zeigt das nicht auch, dass die Waffe noch immer wirkt? Nach all den Jahren?

    Richtig, als nächster Angehöriger / Freund / Bezugsperson ist man in einer Co-Abhängigkeit. Ich denke, man kann sich aus dieser nur befreien, wenn man den Mechanismus kennt, wodurch die Co-Abhängigkeit entsteht oder wie sie sich äußert.

    Mmh. Gleichwohl überlege ich, wie ich das besser rüberbringe.

  • nun – besser Wut als Hilflosigkeit dachte ich mir gerade ….und Rita – ich glaube Befreiung ist das Zauberwort! und ja – es wirkt verdammt lange…

Du musst eingeloggt sein, um zu kommentieren.