Kims Mutter (5)

FeeenweinRikeZwei Tage später wurde Sonja Wengert aus dem Krankenhaus entlassen. Kim konnte sich nicht darüber freuen, dass sie wieder da war. Sie hatte seit den Ereignissen dieser Nacht nicht mehr gesprochen. Was sollte sie auch sagen? Und vor allem: Wem? In der Schule wusste niemand, dass ihre Mutter zu viel Alkohol trank. Kim brachte nie Freundinnen mit nach Hause und mit der Zeit ging sie auch nicht mehr zu anderen Kindern. Als ihr Vater vorgestern Abend nach Hause gekommen war, hatte er gesagt, nun würde alles gut. Aber wie oft hatte er ihr das schon versprochen? Auch Gitta hatte es versprochen und nicht halten können.

‚Die Mütter der anderen trinken nicht. Warum trinkt meine Mama? An Papa kann es nicht liegen, der ist nett. Bestimmt ist es meinetwegen. Das hat Mama auch schon oft genug gesagt.’ ‚Ohne Dich könnte ich…’ oder ‚Ohne Dich müsste ich nicht…’ Die Sätze ihrer Mutter hallten in ihr nach, wurden immer lauter im Gedankenkreisel, bis Kim es schließlich nicht mehr aushielt und einen Schrei ausstieß, der im Kissen erstarb. Ihre Gefühlswelt war ein ewiges Hin und Her zwischen herzrasender Aufregung und absoluter Leere, zwischen Liebe für ihre Mutter und Hass auf die Flaschen, die sie überall fand. Früher war ihre Mutter anders gewesen, fröhlich, liebevoll, die beste Mama der Welt. Jetzt schien sie aus zwei Wesen zu bestehen, war einschmeichelnd lieb, solange sie etwas von Kim wollte, und abstoßend böse, wenn sie alles selbst im Griff hatte.

Kim war der Situation emotional nicht mehr gewachsen. Hatte ihre Mama sie nun lieb? Oder war ihre Liebe nur geheuchelt, um Kim wieder dazu zu bringen, etwas für sie zu tun? Wenn sie sie lieb hatte, warum war sie dann immer wieder so gemein zu ihr? Nein, Mama konnte sie nicht lieb haben. Wer jemanden lieb hat, ist nicht nur dann nett, wenn er etwas von einem will.
Das Beste wäre, gar nichts mehr zu fühlen. Dann entgingen einem zwar die seltenen lieben Aufmerksamkeiten, aber man würde auch den Schmerz nicht mehr fühlen, der aus Missachtung und Beschimpfung entstand. Taub müsste man sein, gefühlstaub, nichts mehr an sich ranlassen, die Mama nicht und auch sonst niemanden.
Höchstens Papa. Aber Papa war ja nie da, wenn sie nachmittags mit Mama allein war. Und wenn er dann kam, stritt er wieder nur mit ihr.
Gitta vielleicht. Gitta war nett. Oder tat sie auch nur so? Würde auch sie irgendwann gemein zu ihr sein? Sie konnte keine Versprechen einhalten. Sie lullte sie ein mit ihren schönen Worten, dass alles wieder gut würde, aber das war nichts als heiße Luft. Nichts war gut geworden in den vergangenen Monaten, seit Gitta es ihr zum ersten Mal versprochen hatte. Garnichts.
Nein. Der einzige Mensch, auf den sie vertrauen konnte, war sie selbst.

„Mädchen, kommst Du auf einen Kaffee vorbei, wir müssen reden.“ Gitta war froh über die Einladung von Frau Schneider und sehr erstaunt, als ihr diese zur Begrüßung gleich das „Du“ anbot. „Ich bin Ingrid“, sagte sie und Gitta schlug gern ein. Noch bevor sie sich an den Tisch setzten, begann Ingrid zu erzählen:
„Ich war gestern mit Herrn Wengert, also mit Peter, bei einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholikern. Sie treffen sich einmal die Woche für eine Stunde und tauschen Erfahrungen aus. Das war sehr interessant und ich denke, dass es Peter helfen wird. Ich werde ihn auch in Zukunft begleiten, denn ich möchte einige Dinge verstehen, die ich damals mit Elsbeth erlebt habe und die mich heute noch wütend machen. Was ich aber eigentlich sagen wollte: Es gibt solche Gruppen auch für Kinder alkoholkranker Eltern. Vielleicht wäre das was für Kim.“

„Kim war seit dieser Nacht noch nicht bei mir. Gestern hab ich sie im Hausflur getroffen und da ist sie wortlos an mir vorbei gegangen. Ich hatte das Gefühl, sie ist irgendwie sehr in sich gekehrt und vielleicht sauer auf mich oder so.“
„Lass dich davon nicht entmutigen! Wenn du deine Mutter blutend auf dem Tisch und deinen Vater heulend vor der Couch gefunden hättest, wärest du auch traumatisiert. Vielleicht braucht Kim sogar einen Therapeuten, ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass sie mit jemandem reden sollte, der die gleichen Erfahrungen gemacht hat wie sie. Am besten mit Gleichaltrigen.“
„Okay, ich rede mit ihr.“

Als Gitta am nächsten Tag Kims Schritte im Hausflur hörte, bat sie sie in ihre Wohnung. Kim schien keine Lust zu haben, mit ihr zu reden, doch Gitta überzeugte sie schließlich, dass es sehr wichtig sei.
‚Himmel, wie fange ich nur an?’ „Möchtest Du etwas trinken?“ Gitta kam sich hilflos vor. Sie war Ende zwanzig und hatte keine Erfahrung darin, zwölfjährige Mädchen auf den Alkoholkonsum ihrer Mutter anzusprechen. Was würde passieren, wenn sie etwas Falsches sagte?
Kim schüttelte den Kopf.
‚Verflixt, sie gibt mir nicht eine Sekunde länger Zeit zum Überlegen. … Alles ist genauso richtig wie falsch, also fang endlich an!’, sprach sie sich Mut zu.
„Kim hör zu, es tut mir sehr leid, dass es bei Euch zuhause anders ist, als Du es Dir vielleicht wünschst. Und ich weiß, wie belastend das für Dich ist…“
„Garnichts weißt Du, GARNICHTS!“ Kim schrie Gitta ihre Wut ins Gesicht. „Du hast keine Ahnung, hockst hier in Deiner Bude, sagst mir, dass alles wieder gut wird, und nichts passiert, GARNICHTS, immer die gleiche Scheiße und das wird in 10 Jahren noch so sein, aber dann bist DU ja längst ausgezogen, wie die Leute vor dir und die Leute vor denen.“ Kim war rot angelaufen.
Gitta schnappte nach Luft, wollte zurückbrüllen, besann sich eines besseren und antwortete ganz ruhig:
„Es tut mir leid. Du hast Recht, ich weiß gar nichts. Wirklich gar nichts. Ich weiß nicht, wie das ist, denn ich bin in einem guten Elternhaus aufgewachsen. Aber eines weiß ich: Du bist nicht die Einzige, der es so geht. Da draußen sind viele andere, die alles wissen, die die gleichen Erfahrungen haben wie Du. Und alles, was ich dir vorschlagen wollte, war, mit diesen Kindern zu reden. Weil sie klüger sind als ich.“
Kim stand ihr immer noch wutschnaubend gegenüber, dann drehte sie sich plötzlich um und verschwand mit einem „Ich denk drüber nach“ aus der Wohnung.

(Fortsetzung folgt)

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Bildquelle: Rike / Pixelio
Infos: Kinder alkoholkranker Eltern

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