Pandoras Schatz
Die Novembersonne kämpft gegen die letzten Nebelschleier der Nacht, als Karla die Bäckerei verlässt und sich noch einmal umdreht. Neonkalt prangt „Karls Backstube“ über dem Eingang. Morgen wird die Schrift entfernt, denn Karl ist tot.
Karla macht sich auf den Weg. „Möge der Wind in Deinem Rücken sein.“ Colins Worte begleiten sie. Ja, sie spürt nun den Wind in Rücken und nicht mehr ihren Vater im Genick, der bis zu seinem letzten Tag ihr Leben bestimmt hatte.
Sie hätte ein Junge werden sollen. „Er wird meinen Namen tragen und die Bäckerei erben!“, hatte ihr Vater jedem im Dorf erzählt. Das war beschlossene Sache. Und so konnte er seine Enttäuschung nicht verbergen, als seine Frau ein Mädchen gebar. „Dann ist es eben eine Karla“, murrte er, und seine Frau fügte sich, wie sie sich immer gefügt hatte. Karl war der Herr im Haus, die Autorität, die nicht infrage gestellt werden durfte. Hatte er nicht Respekt verdient? Er stand Nacht für Nacht in aller Frühe auf, damit am Morgen das Brot im Geschäft lag, das seine Frau nur noch verkaufen musste. Mit seiner Hände Arbeit hatte er einen bescheidenen Wohlstand erworben und dieser Erfolg rechtfertigte es in seinen Augen, dass er allein die Geschicke lenkte, die der ganzen Familie zum Glück verhelfen sollten.
Karla geht weiter, den Koffer in der Hand. Vorbei an den Nachbarhäusern, an Schmitzens Metzgerei und dem alten Backsteinbau, in dem sie glückliche Grundschuljahre verbrachte. Sie war ein kluges Kind, die zweitbeste in der Klasse, und ihre Lehrerin hatte den Eltern empfohlen, sie in die Stadt aufs Gymnasium zu schicken. „Was soll sie mit dem Abitur, sie wird Bäcker werden wie ich, da reicht die Realschule, auch für den Papierkram.“ Ihr Vater setzte sich durch. Kein Wort des Widerspruchs von ihrer Mutter, kein Betteln ihrerseits, da sie wusste, dass es keinen Zweck haben würde. Also die Realschule, nur drei Stationen mit dem Bus. Unterfordert war sie, die so gern mehr gelernt hätte. Aber sie gehorchte.
Wenigstens musste sie die Lehre nicht bei ihrem Vater machen. Karl schickte sie zu einem Bekannten ein paar Dörfer weiter, der als Ausbilder einen guten Ruf genoss. Und der zwei Söhne hatte, beide Bäcker. „Der Manfred, der wär was. Thomas erbt die Bäckerei und Manfred wäre was für Dich. Der könnte hier richtig mit anpacken.“ „Manfred wird Elli heiraten“, sagte Karla. „Das werden wir sehen.“ Karl intervenierte bei Manfreds Vater, doch dem war das Glück seine Sohnes wichtiger als seine Freundschaft zu Karl. Der tobte, musste aber einsehen, dass es keinen Sinn hatte. „Du wirst eine alter Jungfer bleiben“, sagte er zu Karla.
Und so kam es. Wer auch immer Interesse an Karla hatte, fürchtete ihren Vater. Jeder im Dorf wusste, dass Karl nichts anderes als einen Nachfolger für die Bäckerei suchte. Das schreckte die jungen Burschen ab, die auf eigenen Füßen stehen und nicht unter Karls harter Hand arbeiten wollten.
Karla erreicht die Bushaltestelle und setzt sich ins Wartehäuschen. Ja, damals war sie eine alte Jungfer. Und sie wäre eine geblieben, wenn Colin nicht gewesen wäre. Er stand eines Tages in der Bäckerei und fragte nach dem Weg zu Roswithas Pension.
„Woher kommen Sie?“ Die Verlegenheit nach ihrer Frage ließ Karla erröten.
„Aus Irland. Ich mache ein paar Tage Urlaub hier.“
„Sie sprechen gut Deutsch.“
„Meine Großmutter ist Deutsche. Ich habe als Kind ein paar Jahre hier gelebt.“ „Entschuldigen Sie meine Neugier. Sie finden Roswithas Pension in der zweiten Straße rechts. Es ist das gelbe Haus mit dem efeubewachsenen Giebel.“
„Dankeschön. Ich hätte auch noch eines von diesen köstlichen Hörnchen.“
Die Art, wie Colin ‚Hörnchen’ sagte, brachte Karla zum Lachen und er fiel ganz selbstverständlich darin ein.
Von da an kam Colin täglich in die Bäckerei. Morgens kaufte er Brötchen, nachmittags etwas Süßes. Am vierten Tag fragte er Karla, ob sie ihm nicht die Umgebung zeigen wolle, und sie willigte ein. Gleich nach Geschäftsschluss ging sie mit Colin im nahen Wald spazieren, abseits der Wege, am verschlungenen Bach entlang, wo sie ihm ihren Lieblingsplatz auf dem großen Findling zeigte. Colin fragte nach ihrer Arbeit, ihren Wünschen, dem, was sie vom Leben erwartete. Nie zuvor hatte sich jemand so für sie interessiert. Als sie ihm von der Bäckerei erzählte, wurde er ernst.
„Die Bäckerei ist wie Pandoras Büchse“, stellte er fest.
Karla schämte sich, weil sie nicht wusste, wovon er sprach, und Colin erzählte ganz selbstverständlich weiter:
„Die alten Griechen erzählten, dass Pandora die Büchse vom Göttervater Zeus geschenkt bekam. Er verbot ihr aber, sie zu öffnen. Es kam, wie es kommen musste: Pandora oder ihr Mann Epimetheus waren zu neugierig. Als einer von ihnen den Deckel hob, entwichen aus der Büchse alles Übel, Mühen und Krankheiten. Die Büchse wurde schnell wieder geschlossen, doch da war das Schlechte schon in der Welt.“
„Und was hat das mit der Bäckerei zu tun? Ich hab keine Büchse aufgemacht.“
„Nein, aber Dein Vater hat Dir die Büchse schon geöffnet überreicht. Die Bäckerei ist Deine Büchse. Sie fesselt Dich an ihn, nimmt Dir die Freiheit, und bringt nichts als Mühe und Abhängigkeit.“
„Das ist eine traurige Geschichte“, stellte Karla fest.
„Nicht ganz. Es ist noch etwas in der Büchse, das herausgelassen werden muss. Pandora hat das auch getan.“
„Was ist es?“
„Die Hoffnung. Pandora hat die Büchse erneut geöffnet und zuletzt die Hoffnung in die Welt gebracht.“
„Kannst du mir sagen, wie ich die Büchse erneut öffnen soll? Mein Vater lässt mich nicht gehen und kein Mann nimmt mich zur Frau.“ Karla errötete wieder. Sie hatte Colin eigentlich nicht vermitteln wollen, wie sehr sie sich nach einer Beziehung sehnte und wie sicher sie sein konnte, dass ihre Sehnsucht vergebens war.
„Es gibt immer einen Weg, die Büchse zu öffnen. Du wirst sehen.“
Colin stand auf und sie gingen zurück ins Dorf.
Ein paar Tage später reiste Colin ab. Sie hatten sich bis dahin täglich getroffen und Colin versuchte bis zuletzt, Karla zu mehr Eigenständigkeit zu ermutigen. Sie könne in jeder Bäckerei arbeiten, es müsse nicht die ihres Vaters sein. Doch sie kam nicht aus ihrer Haut.
„Möge der Wind immer in Deinem Rücken sein“, sagte er ihr zum Abschied.
„Das ist schön“, erwiderte sie.
„Es ist ein irischer Segensspruch für Reisende.“
„Dann müsste ich ihn Dir sagen.“
„Ich bin angekommen in mir. Ich denke, Du brauchst ihn nötiger.“
Karla schwieg und genoss die letzte Umarmung, die er ihr schenkte. Dann stieg er in den Bus und fuhr davon.
Karla sieht den Bus über den Hügel kommen, der sie in die Stadt zum Bahnhof bringt. Heute spürt sie den Wind im Rücken, denn sie ist auf dem Weg zu Colin nach Irland. Drei Jahre lang haben sie sich nun geschrieben, zweimal noch verbrachte er die Ferien in Roswithas Pension, wo sie sich mit ihm heimlich traf und er sie zur Frau machte.
Ihr Vater ist tot. Nein, sie hat die Büchse der Hoffnung nicht vorher öffnen können, war nicht in der Lage, sich aus seinen Erwartungen zu befreien und zu gehen, solange er noch da war. Selbst als ihre Mutter im vergangenen Jahr gestorben war, fühlte sie sich seinem Wunsch verpflichtet, die Bäckerei fortzuführen. Doch die ist nun verkauft, an Manfred und Elli. „Ellis Café“ wird ab morgen über dem Eingang prangen, während sie selbst längst bei Colin ist.
Heute Morgen kam sein Telegramm, als Begleiter für ihre Reise
„Möge der Wind in Deinem Rücken sein.“ Karla verwahrt es sicher in ihrer Tasche. So lange, bis sie angekommen ist und es jemandem geben kann, der es nötiger braucht als sie selbst.
Bildquelle: Songline
Mumpitz
5. Dez 2009
Endlich den Wind im Rücken! Wie viele Menschen können sich aus ihren Zwängen nicht eigenständig befreien. Hier gelingt es erst nach dem Tod des Vaters. Aber man hat beim Lesen nie das Gefühl, dass das zu spät wäre. Wie schön auch der Gedanke, seinen Segen immer dem zu spenden, der ihn grad am nötigsten hat.