Deutschstunde

DerKussFrancescoHayes„Sag nicht, Du hast das verstanden?“
„Doch, ist doch gar nicht so schwer.“
„Ich raff gar nichts.“
„Weil Du nicht ans Küssen denkst dabei.“
„Was hat denn Grammatik mit Küssen zu tun?“
„Viel, weil man sich die Grammatik mit Küssen am besten einprägen kann. Nehmen wir einmal an, ich küsse Dich jetzt. Also rein hypothetisch. ‚Ich küsse Dich’ ist Präsens, also Gegenwart, und Aktiv, weil ich ja aktiv werde.“
„Hört sich logisch an.“
„Und wenn Du mich küsst, wenn ich also sage, ‚Ich werde geküsst’ ist das immer noch Präsens, aber Passiv, weil ich ja nichts tue, sondern weil was mit mir gemacht wird.“
„Bis hierhin kann ich Dir folgen.“
„Also Aktiv und Passiv sind klar, ja? Aktiv ist, wenn das Ding, um das es geht, also in diesem Fall ich, selbst was tut, und Passiv ist, wenn mit dem Ding, also in diesem Fall mit mir, was gemacht wird.“
„Ja, das habe ich verstanden.“
„Gut, dann geht es nur noch um die Zeiten. Präsens ist Gegenwart, also Jetzt, aber das hatten wir ja schon. Dann gibt es das Präteritum, also die Vergangenheit: ‚Ich küsste Dich’ im Aktiv und ‚Ich wurde geküsst’ im Passiv.“ Romane werden meistens in der Vergangenheitsform erzählt.“
„Das ist easy, aber da gab’s doch noch viel mehr Vergangenheit und das habe ich nicht kapiert.“

„Das ist auch etwas schwieriger. Es gibt noch das Perfekt, das benutzt man für etwas Vergangenes, dessen Wirkung aber noch anhält, während man davon erzählt. Wenn ich Dich küsse und ich werde vor Verlegenheit rot und dann fragt mich jemand, warum ich rot bin, dann sage ich: ‚Ich habe geküsst’. Wenn ich rot bin, weil Du mich geküsst hast, ich also wieder passiv war, sage ich, ‚Ich bin geküsst worden.’“
„Wenn Du nicht rot wirst, sagst Du, ‚Ich küsste’ und wenn Du rot wirst, sagst Du ‚Ich habe geküsst’?“
„Grob gesagt: Ja!“
„Oh Mann! Dann hängt die richtige Vergangenheitsform beim Küssen von Deiner Reaktion ab?“
„So gesehen, ja!“
„Und wie war das noch mit dem Plus… Plusdinsgda?“
„Plusquamperfekt.“
„Ja genau, Plusquamperfekt.“
„Das Plusquamperfekt erzählt das, was vor der Vergangenheit passiert ist. Wenn ich dich vor einer Stunde schon einmal geküsst hatte und vor zehn Minuten wieder, dann sage ich ‚Bevor ich dich vor 10 Minuten küsste, hatte ich dich schon einmal geküsst.’ Dann ist ‚küsste’ das Präteritum und ‚hatte geküsst’ das Plusquamperfekt.“
„Und wenn Du davon noch immer rot bist, heißt es: ‚Bevor ich dich vor 10 Minuten geküsst habe, hatte ich dich schon einmal geküsst.’“
„Richtig! Und im Passiv ist es ‚Bevor ich geküsst wurde, war ich schon einmal geküsst worden.’ Oder, wenn ich noch rot bin, ‚Bevor ich geküsst worden bin, war ich schon einmal geküsst worden.’“
„Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder?“
„Doch, das ist mein voller Ernst.“

„Gut, das habe ich jetzt kapiert, und wie ist das jetzt mit der Zukunft?“
„’Ich werde küssen’ ist Aktiv und ‚Ich werde geküsst werden’ ist Passiv. Beides heißt Futur, also Zukunft.“
„Aber bei der Zukunft gab’s doch auch zwei Formen.“
„Richtig, es gibt auch noch Futur 2. Das benutzt man beim Sprechen kaum, aber in der Schriftsprache kommt es schon mal vor. Es bezeichnet eine abgeschlossene Handlung in der Zukunft. ‚Ich werde Dich geküsst haben’ im Aktiv und ‚Ich werde geküsst worden sein’ im Passiv.“

„Duuu…?“
„Ja?“
„Kennst Du Pestalozzi?“
„Der Pädagoge?“
„Ja, der Pädagoge. Weißt Du noch, was der gesagt hat?“
„Jetzt grad nicht.“
„Er hat gesagt, dass wir immer mit Kopf, Herz und Hand lernen sollen, damit wir uns die Dinge besser merken können.“
„Ja, und?“
„Ich glaube, ich brauche noch eine praktische Unterweisung, bis ich die Kuss-Grammatik gänzlich verstanden habe….“

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Bildquelle: Francesco Hayes „Der Kuss“ (Ausschnitt), Wikipedia

  • Etwas anders, als die „Deutschstunde“ von Lenz – aber eine echt „herzige“ Umwandlung einer witzigen Idee.
    Hat Spass gemacht! ;o)

  • Ha, bevor ich den Schluss gelesen hatte (ist in der Vergangenheit abgeschlossen…), dachte ich schon, also, wenn man das am Beispiel des Küssens nicht praktischer lehrt, begreift das kein Mensch!! Zumal es hier ja nicht um den Konjunktiv geht, hä?
    Also: küssen oder lernen, beides geht nicht. Oder doch: beim Küssen lernen…

  • Als ich mit dem Lesen dieses Textes begonnen hatte, ahnte ich, dass ich beim Lesen des letzten Wortes begeistert sein würde.

    gerne gelesen

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