Loslassen lernen

„Wer sein Kind liebt, schickt es auf Reisen“ (Japanisches Sprichwort)

Ich kenne dieses Glitzern in den Augen. Es war das gleiche Glitzern, das ich früher hatte, von Fernweh getrieben und neugierig auf die Welt, das ich nun in den Augen meiner Tochter sah. Sie stand vor gut einem halben Jahr vor mir, 13 Jahre alt, und erzählte voller Begeisterung, dass es in der Schule nun eine Neuseeland-AG gäbe und sie gerne an dem dreiwöchigen Schüleraustausch teilnehmen würde, den die AG vorbereitete. Und alles in mir sagte: Ja.

Natürlich waren die Reaktionen im Familien- und Freundeskreis sehr unterschiedlich. Die Meinungen reichten von „Toll!“ bis „Muss das sein?“ und natürlich macht man sich auch als Eltern genau diese Gedanken: Toll, welche Möglichkeiten den Kindern heute geboten werden. Muss das sein, dass man schon 8-Klässler nach Neuseeland fahren lässt?
Unsere Antwort: Ja, es ist toll. Und nein, es muss nicht sein, aber es spricht auch nichts dagegen.

Im Gegenteil. Kinder brauchen Erfahrungen. Sie sollen lernen, dass es woanders anders ist, weil sie nur im Vergleich zwischen den eigenen und anderen Lebensumständen ihren eigenen Standpunkt hinterfragen, beurteilen und immer wieder neu festlegen können. Sie sammeln diese Erfahrungen bei Freunden. Sie sammeln sie im Urlaub, auch wenn man, wie wir, „nur“ innerhalb Deutschlands verreist. Aber die in meinen Augen wohl wichtigste Erfahrung ist die Konfrontation mit anderen Kulturen und Kulturkreisen.

Ich selbst war früher viel unterwegs. Fernweh und Neugier waren so tief in mir verankert, dass ich teilweise den nächsten Urlaub binnen einer Woche nach der Rückkehr aus dem vorhergehenden buchte, weil ich ein Ziel brauchte, wann ich wieder losziehen konnte. Sehen, hören, fühlen, riechen, die Welt mit allen Sinnen entdecken. Kommunizieren, andere Sichtweisen kennen lernen, Menschen treffen. Keine Erfahrungen waren so wertvoll wie die auf Reisen gesammelten.

Der Afrikaforscher Heinrich Barth hat 1859 eine Begründung für’s Reisen abgegeben, die bis heute Gültigkeit hat: „Wer unter Völkerschaften des verschiedensten Charakters und der verschiedensten Glaubensformen gelebt und bei allen in ihrer Weise treffliche Menschen gefunden hat, wird sich vor Einseitigkeit der Anschauung menschlicher Lebensverhältnisse bewahren.“
Genau das ist der Punkt.

„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ (Goethe)
Wurzeln werden von Anfang an gebildet, das Band zwischen Eltern und Kind, der Halt, an dem sich das Kind aufrichten kann. Die Frage ist, wann es Zeit wird für die Flügel. Hierfür gibt es nicht das richtige Alter, denn das hängt von der Persönlichkeit des Kindes ab. Seit Anna 8 Jahre alt ist, fährt sie einmal im Jahr ohne uns für eine Woche in eine Ferienfreizeit des Jugendherbergwerks. Eine Woche mit fremden Kindern und unbekannten Betreuungspersonen. Eine Woche, in der sie sich selbst organisieren und zurechtkommen muss. Eine Woche, die ihr noch nie Probleme bereitet hat.

Wir wissen, wie es ist, sie loszulassen. Ihr eigene Wege zuzutrauen. Wir haben gesehen, wie sie aus jeder ihrer Freizeiten mit gestärktem Selbstbewusstsein zurückkam. Unsere Anna. Die früher so zurückhaltende, schüchterne Anna. Die bis heute nicht vorprescht, sondern jede Situation beobachtet und bewertet, bevor sie handelt. Unser Kind, das nun bereit ist, die Flügel wieder ein Stückchen mehr wachsen zu lassen. In den kommenden drei Wochen in Neuseeland.

Natürlich bin ich in Gedanken bei ihr. Jetzt, da ich dies schreibe, sitzt sie im A 380 der Fluggesellschaft Emirates und ist auf dem Weg von Dubai über Sydney nach Auckland. Ich verfolge die Ankunfts- und Abflugszeiten auf den Internetseiten der Flughäfen. Ich weiß, dass sie ungeduldig wurde, als der Flieger in Dubai mit 1 ½ -stündiger Verspätung startete. Ich habe nachgesehen, dass sie dennoch heute Nacht pünktlich in Auckland sein wird, weil der Aufenthalt in Sydney gerade reicht, die Verspätung wieder reinzuholen. Wenn die Gruppe ankommt, ist es in Auckland Mittag. 12 Stunden Zeitverschiebung.

Der Plan der nächsten drei Wochen liegt vor mir. Auckland, Rotorua, Wellingon, Picton, Christchurch, Ashburton, Lake Tekapo, Queenstown, Dunedin, Christchurch. Von dort zurück nach Deutschland. In Gedanken an Anna gehe ich selbst den Weg zurück dorthin. Frage mich, ob sie sieht, was ich gesehen habe. Bin neugierig, wie ihre Eindrücke sich von meinen unterscheiden werden. Ich lasse Euch regelmäßig an meiner Erinnerung teilhaben. Weil Neuseeland, am gegenüberliegenden Ende der Welt, es wert ist, dass man ein wenig darüber erzählt.

Bildquelle: Wikipedia, Public Domain

  • Wunderbar erzählt. Man ist geneigt zu nicken, dir zuzustimmen, weil sich alles so richtig anhört. Ich grüße dich, John

  • Meine Tochter war für ein Jahr in Australien. Ich kann deine Gefühle und Gedanken sehr gut nachempfinden, obwohl sie schon 20 war, als sie sich auf den Weg machte.

  • Da reihe ich mich gerne ein
    Mein Engelchen (22) ist seit September für ein Jahr nach Amerika ausgeflogen, sechs Monate College sechs Monate Praktikum.
    Loslassen war schwer, aber wenn ich ihre Homepage betrachte, dann bin ich mächtig stolz auf die junge Dame.
    Anna ist ein schöner Name, wäre mein Sohn eine Tochter gewesen, hieße er heute Anna

    Vom Handwerk gesehen ein klasse Bericht, Songline

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