Das Gericht

„Haben Sie schon gewählt?“
William schrak hoch, denn er hatte nicht bemerkt, dass jemand an ihn herangetreten war. „Nein, einen Moment bitte noch.“

Die Entscheidung fiel ihm schwer. Er war nicht geübt darin, ein Menü zusammenzustellen, und der besondere Anlass machte die Sache nicht gerade einfacher. 40 Dollar durfte er ausgeben. Damit könnte er sich etwas Extravagantes leisten, etwas, das er nie zuvor gegessen hatte. Hummer vielleicht? Aber was wäre, wenn er feststellen müsste, dass er Hummer nicht mochte? Nein, es war besser, etwas Bekanntes auszuwählen.

Die meisten nahmen Cheeseburger. Das musste man sich mal vorstellen! Wie konnte man sich nur mit einem Cheeseburger zufrieden geben, wenn man so viel Geld zur Verfügung und eine umfangreiche Auswahl hatte? Nein, so gern er Cheeseburger mochte, er würde ein Festmahl aus diesem Menü machen, das war sicher.

Sollte er eine Suppe als Vorspeise nehmen? Ja, eine Suppe wäre gut, aber sie dürfte nicht zu kräftig sein, sonst hätte er anschließend keinen Appetit mehr. Also nur eine Bouillon, doch eine feine, mit Fisch oder Garnelen. Eher eine Garnelenbouillon. Totes Getier in lebendig sprudelndem Wasser. Die Vorstellung gefiel ihm.
Als Hauptgericht Roastbeef, zartrosa. William stellte sich vor, wie das Fleisch an seinem Gaumen zerschmolz. Etwas Salat und Brot dazu, das Beef war der Höhepunkt.
Er gäbe alles für einen guten Cranberry-Pfannkuchen zum Dessert. Sicher würde man ihm diesen Wunsch erfüllen, doch niemand machte die Pfannkuchen so, wie seine geliebte Mutter sie gemacht hatte, mit frisch geernteten Früchten und Mehl aus eigener Herstellung. Ein ferner Geruch aus Kindertagen wehte ihm in die Nase und er sog ihn in sich auf. Nein, sie würden es nicht schaffen, es war besser, darauf zu verzichten.

William atmete tief durch. Garnelenbouillon und Roastbeef, kein Nachtisch. Was die anderen wohl heute aßen? Es war Freitag, also gab es Suppe oder Fisch. Kein Fleisch am Freitag, die christliche Tradition wurde hier bewahrt. Für ihn würde man eine Ausnahme machen.

Eigentlich war es nicht richtig, ihn besser zu behandeln. Was wollten sie ihm damit sagen? Dass sie ihm wohlgesonnen waren? Oder dass es keine Rolle spielte, wenn er aus der strengen Disziplin ausbrach, weil er schon nicht mehr zu ihnen gehörte. Weil er morgen sowieso …
Wollten sie ihn gnädig stimmen? War es ein Zeichen, dass er ihnen verzieh, wenn er das Angebot annahm, ihr letztes Geschenk? War es überhaupt ein Geschenk oder eher eine Bestechungsgabe? Mike hatte das behauptet. Mike hatte erzählt, dass schon in alten Kulturen menschliche Opferlämmer mit einem besonderen letzten Gericht milde gestimmt wurden, damit ihre Seele nicht Rache nähme für den Tod, der aus der Hand des Henkers kam.

William zögerte. Mike war ein belesener Mann, ein wenig verrückt, aber intelligent. Mike hatte angekündigt, die letzte Mahlzeit zu verweigern, um ihnen zu zeigen, dass er nicht einverstanden war mit seiner Todesstrafe, und um sie ein Leben lang seine Rache fürchten zu lassen. Dies sollte seine letzte Genugtuung sein.

William wollte keine Rache. Er hatte getötet und sich damit abgefunden, nun selbst getötet zu werden. Auge um Auge, Zahn um Zahn, so stand es schon in der Bibel. Der Pfarrer war bei ihm gewesen, er war bereit. Keine zwölf Stunden mehr bis zur Hinrichtung. Nichts mehr zu tun, außer das letzte Gericht auszuwählen und zu verzehren. Und dann zu warten.

„Haben Sie sich jetzt entschieden?“
Garnelenbouillon und Roastbeef. Tod und Leben. Bereuen und Verzeihen. Ausgebrochen aus der Disziplin, frei sein, ein letztes Mal. Ein letztes Mahl?
William zögerte.
„Cheeseburger“, sagte er dann.

  • beeindruckende geschichte. aber auch unvorstellbar, wie jemand in dieser situation wohl denkt …

  • Eine gefährliche Geschichte! Meine erste Reaktion auf den Text: HUNGER!! Mmmmhh, Roastbeef. Mit einem leckerem Cocktailsößchen. Dazu Weißbrot … mit Kräuterbutter …
    Auf den zweiten Blick: So sehr mir die Schlusspointe gefällt, so fällt mir doch auf, dass die Autorin auch hier wieder einmal ihrer Neigung zur Resignation verfällt. Bei Songline stoße ich oft auf Figuren, die wollen, aber nicht können, und im letzen Moment dann doch zurückschrecken und den Schwanz einziehen.
    Ich hätte es besser gefunden – wenn auch nicht aus literarischer Sicht, sondern nur aus dem Gefühl heraus – wenn der Protagonist sich hemmungslos seiner Schlemmerlust hingegeben hätte. Ich hätte das jedenfalls gemacht. Ich würde die Story gern noch mal mit einem „alternative Ending“ lesen.

    • Pruuust! Vielen Dank, lieber Harry, für den ersten herzhaften Lacher des heutigen Tages! 😀
      Wenn wir uns irgendwann kennenlernen, wirst du feststellen, dass ich alle möglichen Neigungen habe, nur nicht den zur Resignation.

      Ein alternatives Ending wird es nicht geben, weil es nicht logisch ist. Der Protagonist gerät ins Zweifeln und da wäre ein Festmahl nicht folgerichtig.

      Danke für Deinen Kommentar!

  • Hmmjaaa, ich weiß ja nicht. Der Zeifel kommt ja ganz zum Schluss und gibt der Geschichte mit dieser Wende einen ganz bestimmten Zugenschlag. Der ja alles andere als schlecht ist!! Die Pointe ist wirklich super. Aber: Gerade, weil der Protagonist sich abgefunden hat, wäre es nicht unlogisch, ihn „entspannt“ der Völlerei frönen zu lassen. Eben weil William bis zum letzten Absatz so ausgeglichen ist. Ich persönlich hätte die Story ironischer enden lassen, was aber nicht besser sein muss, sondern einfach nur mehr meiner Wesensart entspricht. Zum Beispiel: „Garnelenbouillon und Roastbeef“, sagte er. „UND einen Chessesburger.“ So hätte ich mich als jemand, der irgendwie nichts ernst nehmen kann – auch nicht die eigene Hinrichtung – jedenfalls in dieser Situation verhalten.
    Ich hatte übrigens nicht gemeint, Du seist resignativ. Deine Figuren neigen dazu. Aber auch das ist nichts Schlechtes. Es wertet Deine Texte in keinster Weise ab. Im Gegenteil.

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