Spielzeit

e2-e4 Was sonst? Er eröffnete.
„Spiel“, sagte er.
„Ich spiele nicht. Und schon gar nicht gegen dich“, antwortete sie.
„Spiel!“
„Nein!“
„Wenn du nicht ziehst, ziehe ich für dich.“
Sie schwieg und bewegte sich nicht.

Er zog ihren Bauern, dann seinen.
d7-d6
d2-d4
„Tu was.“
„Nein.“
„Du kannst es nicht?“
„Ich will es nicht.“
„Weil du verlieren wirst?“
„Weil wir beide nur verlieren können dabei.“

Sg8-f6
Sb1–c3
Sie wollte, dass er aufhört, und er wusste es.
„Bitte nicht.“
„Wieso, wir sind doch gerade so schön dabei.“
Er setzte das Spiel fort.

g7-g6, Lc1–e3, Lf8-g7, Dd1–d2, c7-c6, f2-f3, b7-b5, Sg1–e2, Sb8-d7, Le3-h6, Lg7xh6, Dd2xh6, Lc8-b7, a2-a3, e7-e5, 0–0–0
„Du weißt, was jetzt kommt?“ Er grinste und griff nach ihrer Dame, doch sie war schneller und nahm sie an sich.
„Wir werden uns nicht schlagen, bis wir am Ende beide bluten.“
„Werden wir nicht?“
„Nein.“
„Stell die Dame zurück auf das Feld.“
„Nein. Warte hier.“

Sie stand auf und kam mit einem bunten Karton zurück. Vorsichtig hob sie das Schachbrett beiseite und baute einen Spielplan auf, in dessen Mitte ein schwarzer Rabe aufgemalt war. In den Ecken befanden sich Obstbäume. Konsterniert sah er ihr zu, während sie hölzerne Äpfel, Birnen, Kirschen und Pflaumen auf den Bäumen platzierte.

„Was soll das?“, wollte er wissen.
„Wir spielen. Der schwarze Rabe wird all das Obst fressen, wenn wir es nicht vorher gemeinsam aufsammeln.“
„Das ist nicht dein Ernst!“ Wütend sprang er auf.
„Doch, das ist mein voller Ernst. Wir beide gemeinsam gegen den Raben.“
„Das ist ein Spiel für Dreijährige!“
„Ja, das ist es.“
„Du spinnst doch!“
„Bei diesem Spiel können wir beide nur gewinnen. Oder gemeinsam verlieren, dann gewinnt der Rabe.“
„Ich spiele doch nicht gegen so einen scheiß aufgemalten Vogel!“
„Wenn wir ihn geschlagen haben, spiele ich danach mit dir, was du willst.“
Seine Augen blitzten. „Auch das Schachspiel zu Ende?“
„Ja, auch das Schachspiel zu Ende.“
„Du wirst es verlieren.“
„Ja, ich weiß.“
„Warum dann nicht gleich?“
Sie lächelte.

  • Eine tolle Weihnachtsgeschichte, so empfinde ich es jedenfalls zu dieser Zeit. Wir haben ein Spiel, das nennt sich der Riese Grobian. Alle spielen gemeinsam gegen den Riesen, der die anderen fangen will. Hilft man sich nicht, geht der letzte verloren, und alle haben mit verloren. Es ist so spannend wie kein Schachspiel sein kann. Dann gibt es das Schäferspiel, bei dem alle gemeinsam die Schafe in das Gatter bringen müssen, bevor der Schäfer den Zaun zubaut. Auch klasse, und nicht nur für Dreijährige.
    Das Schachspiel kann warten, das wird „er“ erfahren, gut, dass er sich darauf einlässt.

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